Sensoren, Kabel und gestörte Intimität: Ethnologische Spurensuche im Schlaflabor

11. September 2024

Schlaf ist ein fragiler Zustand. Er kann leicht gestört werden und wir sind darauf angewiesen, dass er wie von selbst kommt. Wir haben zwar Einfluss auf die Randbedingungen für sicheren, ausreichenden und erholsamen Schlaf, aber er entzieht sich unserem willentlichen Zugriff. Es gibt keine intentionale Handlung, die uns unmittelbar und verlässlich in den Schlaf versetzen würde. Umso belastender werden Schlafstörungen empfunden. Die Medizin versucht deshalb seit langer Zeit, den verschiedenen Ausprägungen und Ursachen von gestörtem Schlaf mit Hilfe von Schlaflaboren auf die Spur zu kommen. Aber kann das funktionieren? Wir haben Julia Vorhölter gefragt, die in deutschen Schlaflaboren geforscht und die besondere Atmosphäre in einer technischen Welt erkundet hat, in der so etwas Privates und Intimes wie Schlaf diagnostiziert werden soll.

 

Julia, wie bist Du auf das Thema Schlaflosigkeit gekommen?
Ich denke, es waren im Wesentlichen vier Gründe, die dazu führten, dass ich mich mit dem Thema beschäftige. Zum einen gab es eine Phase in meinem Leben, in der ich selbst Erfahrungen mit Schlaflosigkeit gemacht habe. Das war eine interessante und anstrengende Grenzerfahrung. Denn Schlaflosigkeit lässt sich ja nicht so einfach bekämpfen. Zu dieser Zeit war ich auch auf der Suche nach einem neuen Forschungsthema und dabei habe ich festgestellt, dass es in der Ethnologie zwar sehr umfangreiche Studien zu den Themen Traum und Träumen gibt, aber sehr viel weniger zu Schlaf und Schlaflosigkeit. Hinzu kam drittens, dass in dieser Zeit die Mobilität wegen Corona stark eingeschränkt war. Ich brauchte also ein Thema, das ich auch zu Hause bearbeiten konnte. Und viertens schließlich hat sich für mich der Zugang zu einigen Schlaflaboren eröffnet, in denen ich dann den großen Teil meiner Feldforschung durchführen konnte.

Schlaf beeinflusst die Organisation des sozialen Lebens

Was macht das Thema für die Ethnologie so interessant?
Dafür gibt es ganz viele Gründe. Allein die biologische Notwendigkeit, dass wir etwa ein Drittel unseres Lebens im Schlaf verbringen müssen, um gesund zu bleiben und uns wohlzufühlen, ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sehr interessant. Schlaf oder sein Mangel sind allgegenwärtiges Thema in täglichen Gesprächen und in den Medien. Und Schlaf – wann, wo, wie Menschen schlafen und schlafen dürfen – beeinflusst ganz grundlegend die Organisation des sozialen Lebens.

Welche sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse kann man denn aus der biologischen Notwendigkeit des Schlafens gewinnen?
Menschen haben ganz unterschiedliche Schlafgewohnheiten, die häufig von äußeren Umständen wie der sozialen und ökonomischen Lage geprägt sind. Das macht Schlaf zu einem gesellschaftlichen Phänomen, das beispielsweise Rückschlüsse auf Klassenverhältnisse, Traditionen und Wertvorstellungen gestattet.

Kannst Du dafür ein Beispiel nennen?
In der Kindererziehung wird deutlich, welch immensen Stellenwert wir dem Schlaf beimessen. Es gibt je nach gesellschaftlichem Umfeld unterschiedliche, aber meist recht rigide Vorstellungen davon, wann und wie lange Kinder schlafen sollen, wo sie schlafen, ob sie allein in einem eigenen Zimmer einschlafen sollen oder ob sie gemeinsam mit Eltern und Geschwistern in einem Bett liegen. Abweichende Vorstellungen von der jeweils gängigen Praxis werden dann meist hoch emotional verhandelt.

Was denkst Du, ist der Grund dafür, dass es vergleichsweise wenig ethnologische Forschung zu Schlaf und Schlaflosigkeit gibt?
Schlaf und Schlaflosigkeit sind etwas sehr Subjektives, Privates, Intimes, das sich schwer beobachten lässt. Menschen reden zwar sehr viel über ihren Schlaf, vor allem, wenn sie glauben schlecht zu schlafen. Aber Schlaf ist eben nur bedingt bewusst erfahrbar und dadurch auch nur bedingt erzählbar. Oftmals klaffen unsere eigene Wahrnehmung des Schlafes und die Messungen von Schlaf, wie sie zum Beispiel im Schlaflabor oder auch von Schlafapps durchgeführt werden, weit auseinander. Beides ist aber wichtig.

Was genau hat dich bei deiner Forschung im Schlaflabor interessiert?
Das Schlaflabor ist einer der wenigen Orte, wo sich Menschen beim Schlafen beobachten lassen und wo subjektive Wahrnehmung und objektive Messung des Schlafes aufeinandertreffen. Menschen kommen ins Labor, weil sie das Gefühl haben, schlecht zu schlafen. Das Ziel des Schlaflabors ist es den Schlaf zu vermessen und damit den Ursachen von Schlafstörungen auf die Spur zu kommen. Ich wollte herausfinden, ob und wie das funktioniert.

Und funktioniert es? Können die diagnostischen Möglichkeiten im Schlaflabor den Schlaflosen helfen?
Zum Teil schon. Für Menschen, die unter Schlafapnoe leiden, gibt es aussichtsreiche Therapien. Mit Atemmasken, die man während des Schlafens tragen muss, können diese kurzen Atemstillstände, die häufig unbemerkt bleiben, die Qualität des Schlafs aber negativ beeinflussen, gut behandelt werden. Gleichzeitig schafft die spezielle Atmosphäre eines Schlaflabors aber auch Probleme, die die Erkenntnisse und das Wissen rund um Schlaflosigkeit stark beeinflussen.

Die technischen Apparate im Labor beeinträchtigen den Schlaf

Was sind das für Probleme?
Das Konzept des Schlaflabors stört nicht nur die Intimität des menschlichen Schlafs, sondern auch die Etikette des Umgangs mit Schlafenden: Menschen werden geweckt, um Kabel neu zu positionieren, sie werden beim Schlafen mit Kameras beobachtet, und das Schlafverhalten wird mit Hilfe zahlreicher Messgeräte, die zum Teil mit dem Körper verbunden sind, aufgezeichnet und analysiert. Diese Verstrickung in eine technische Umgebung beeinträchtigen den Schlaf, den Wissenserwerb über den Schlaf und die Therapie ganz erheblich.

Können die Patienten unter diesen Bedingungen denn überhaupt schlafen?
Manche schon, aber für viele ist die Situation im Schlaflabor mit Stress verbunden. Denn um valide Ergebnisse zu erzielen, müssen idealerweise die Daten von sechs Stunden Schlaf erfasst werden. Aber wie jeder weiß, lässt sich Schlaf nicht so einfach herbeiführen und kontrollieren. In der fremden Umgebung eines Labors ist das natürlich noch viel schwieriger.

Du sagst, dass Patienten mit Schlafapnoe durch die Diagnose im Schlaflabor gute Aussichten auf eine erfolgreiche Therapie haben. Aber was ist mit den Menschen, die aus anderen Gründen schlecht schlafen?
Genau das ist ein weiteres Problem. Schlafstörungen, die nicht im Zusammenhang mit Apnoe auftreten, lassen sich sehr viel schlechter diagnostizieren. Denn die Apnoe-Symptome wie die Häufigkeit der Atemstillstände, die Veränderung des Blutdrucks und der Sauerstoffkonzentration im Blut sind alle messbar. Sie lassen sich quantifizieren und ermöglichen so eine objektive, evidenzbasierte Diagnose, die wiederum innerhalb der medizinischen Ökonomie eine wichtige Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist. Andere Schlafstörungen erfordern völlig andere diagnostische Verfahren, die im Vergleich zum Schlaflabor eine untergeordnete Rolle spielen.

Warum ist das so?
Die Logik der medizinischen Ökonomie begünstigt die evidenzbasierte Diagnostik im Schlaflabor. Und die ist in den meisten Laboren auf die Behandlung von Apnoe ausgerichtet. Die Suche nach den Ursachen von anderen Schlafstörungen erfordert aber auch Zugänge, die nicht im engeren Sinne evidenzbasiert sind. Insomnie zum Beispiel, eine der häufigsten Schlafstörungen, ist weniger durch einen objektiven Mangel oder eine schlechte Qualität des Schlafs definiert als vielmehr durch eine grundlegende Diskrepanz zwischen der gewünschten und der erreichbaren Schlafmenge. Das lässt sich also nicht einfach messen. Stattdessen erfordert die Diagnose meist lange Anamnesegespräche, in denen weniger datenbasierte Evidenz als vielmehr die Erfahrung und das Einfühlungsvermögen der Ärztin oder des Arztes eine zentrale Rolle spielen.

Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden, werden häufig nicht ernst genommen

Wenn Patientengespräche vom medizinischen System besser honoriert würden, dann würden sich Schlafmediziner nicht so sehr auf Apnoe konzentrieren, sondern auch andere Formen der Schlaflosigkeit behandeln?
Ja, das ist sicherlich ein wichtiger Grund, warum die medizinischen Infrastrukturen für die Behandlung von Apnoe und Insomnie in Deutschland sehr unterschiedlich sind und warum Menschen, die unter chronischer Schlaflosigkeit leiden Schwierigkeiten haben, überhaupt ernst genommen zu werden und Hilfe zu finden. Vereinfacht gesagt: mit Schlaflaboren lässt sich mehr Geld verdienen als mit Patientengesprächen.

Um die spezielle Situation in einem Schlaflabor zu beschreiben, hast du mit den drei analytischen Begriffen „intimer Raum“, „Techno-Intimität“ und „Nebenaffekt“ gearbeitet. Was ist damit gemeint?
Mit diesen drei Begriffen kann ich beschreiben wie Personal, Patienten, Ort, Material und Bedeutung eng miteinander verwoben werden und welche unerwünschten Folgen bei diesen Begegnungen manchmal entstehen. Der persönliche intime Raum, der durch Schlaf erzeugt wird, muss durch das Personal immer wieder gestört werden, um die zahlreichen Geräte anzuschließen und um deren Funktion sicherzustellen. Das führt häufig zu unerwünschten und für alle Beteiligten zu unangenehmen intimen Begegnungen und Berührungen. Das kann bei den Patienten wiederum zu affektiven Reaktionen führen, die den Schlaf selbst, die Messergebnisse und die Diagnose negativ beeinflussen. Diese unerwünschten Reaktionen habe ich in Anlehnung an den medizinischen Begriff „Nebenwirkung“ „Nebenaffekt“ genannt. Dieses Wortspiel funktioniert im Englischen mit den beiden Begriffen „side effect“ und „side affect“ natürlich etwas besser.

Sind Affekte in diesem Zusammenhang dasselbe wie Emotionen?
Ich verwende den Begriff „Affekt“ in Anlehnung an Brian Massumi im Sinne einer vorbewussten und vorsprachlichen Empfindung. Als Reaktion des Körpers auf seine Umwelt. Im Fall des Schlaflabors will ich damit beschreiben, wie der menschliche Körper auf die klinische Atmosphäre reagiert, ohne dass die Patienten sofort in Worte fassen könnten, was es genau ist, worauf sie reagieren und wie sie reagieren. Emotionen sind eher kulturell codierte Lesarten von Gefühlen wie Wut, Trauer, Angst. Affekte sind unbestimmter, können aber auch zu einer Resonanz oder Reaktion des Körpers führen, die sich kaum kontrollieren lässt.

Die Reaktionen im Schlaflabor sind unkontrollierbar?
Das würde ich nicht sagen, aber sie sind zumindest nicht immer so kontrollierbar, wie es der diagnostische Apparat erfordern würde, um valide evidenzbasierte Ergebnisse zu erhalten.

Was machst Du als Nächstes? Hast Du weitere Projekte auf dem Gebiet der Schlafforschung?
Einen Aufsatz dazu will ich noch schreiben. Dafür habe ich an einigen schlafmedizinischen Tagungen und Industrieausstellungen teilgenommen. Ich will mich damit beschäftigen, wie aus dem Zusammenspiel von Wissenschaft, Forschung, klinischer Praxis und Pharmaindustrie neue Therapierichtlinien entstehen.


Originalpublikationen
Julia Vorhölter 2023, Sleeping with Strangers – Techno-Intimacies and Side-Affects in a German Sleep Lab, Historical Social Research 48:2, 23-40.
doi: 10.12759/hsr.48.2023.14

Julia Vorhölter 2024, (Mis)Perceiving Apnea and Insomnia in Germany: A Tale of Two Disorders, Medical Anthropology, 43:1, 46-60.
doi: 10.1080/01459740.2023.2266858

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