Emmy Noether-Gruppe - Verschuldung in der Peripherie: Geld, Risiko und Politik in Osteuropa
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Seit den 1980er Jahren ist die Haushaltsverschuldung weltweit gestiegen. Verantwortlich dafür sind unter anderem Faktoren wie Stagnation der Reallöhne, finanzielle Deregulierung und veränderte Geschäftsstrategien der Banken. Forscherinnen und Forscher in verschiedenen Disziplinen sehen diesen Trend als Teil eines größeren Prozesses der sogenannten „Finanzialisierung“ – d.h. einer Transformation des Kapitalismus im Zuge der wachsenden Dominanz des globalen Finanzsektors. Die verstärkte Verschuldung ist ein zentraler Mechanismus, durch den die Finanzialisierung bis in die intime Sphäre der Familie eindringt. Dabei können Akteure des Finanzsektors Wert aus Haushalten extrahieren, während die Haushalte verschiedenen Risiken ausgesetzt werden und sich finanziellen Kalkulationen und Selbstdisziplin unterziehen müssen. Gleichzeitig sind Überschuldung, rücksichtslose und räuberische Kreditvergaben sowie Zwangsräumung und andere Inkassoverfahren in den Fokus intensiver öffentlicher Debatten gerückt und werden durch soziale Bewegungen und politische Parteien angefochten. Die Gesamtheit dieser Aspekte trägt zu einer beispiellosen Politisierung des Finanzsystems als solchem bei.
Für Anthropologen und Anthropologinnen mit ihrem traditionellen Schwerpunkt auf die Betrachtung des alltäglichen Lebens und der lokalen Ebene, stellt die Haushaltsverschuldung eine wichtige Linse dar, um die scheinbar abstrakten Prozesse der Finanzialisierung ethnographisch zu erfassen. Eine wachsende Anzahl von anthropologischen Studien dokumentiert die Erfahrungen und Strategien von Schuldnern, die Praktiken der Kreditgeber sowie die Debatten und Kämpfe rings um das Thema Verschuldung. Aufbauend auf bereits erfolgter Forschung von Marek Mikuš als Mitglied der Forschungsgruppe „Finanzialisierung“ in der Abteilung ‚Resilienz und Transformation in Eurasien‘ wird die neue Gruppe eine vergleichende ethnographische Studie über Haushaltsverschuldung in Osteuropa durchführen. Durch die erste Studie dieser Art sollen drei wichtige Forschungslücken adressiert werden:
- Erstens: die Forschungsgruppe wird die verschiedenen Rollen von Geld in osteuropäischen Kreditvergabepraktiken untersuchen, um Funktionsweisen von Geld als einer speziellen Form der Ware, die in ungleiche soziale und geographische Beziehungen eingebettet ist, zu verstehen.
- Zweitens: es werden die Zusammenhänge zwischen Verschuldung und Risiko dokumentiert – d.h. es wird betrachtet, wie durch Verschuldung Risiken in Haushalte eingebracht werden, und wie Haushalte diese Risiken verstehen und mit ihnen umgehen.
- Drittens: die Gruppe wird sich breitgefasst mit der Politik der Haushaltsverschuldung beschäftigen, eingeschlossen der Untersuchung von Aktivismus, Parteipolitik sowie staatlichen Maßnahmen.
Das Forschungsprojekt konzentriert sich dabei auf vier osteuropäische Länder: Kroatien, Ungarn, Polen und der Slowakei. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus gab es in allen vier Ländern eine enorme Zunahme an Haushaltsverschuldung im Rahmen von Finanzialisierungsprozessen, die von kritischen Ökonomen als peripherie-spezifische Entwicklungen interpretiert werden. Verschuldungsformen mit hohen Risiken oder hohen Kosten, wie variabel verzinste Darlehen und Zahltagkredite waren weit verbreitet. Dazu gab es in Kroatien, Ungarn und Polen einen erheblichen Anteil von Fremdwährungsdarlehen; darunter erwiesen sich die Kredite in Schweizer Franken als besonders problematisch. In Kroatien und in der Slowakei wurden die Praktiken der Schuldeintreibung ein extrem brisantes Thema. Diese und ähnliche Entwicklungen führten zu bisher unbekannten Politisierungen der Haushaltsverschuldung, die oftmals reformistischer und konservativer waren als die bekannteren Anti-Verschuldungsbewegungen im Westen, sowie zur Einführung von staatlichen Maßnahmen, die den Folgen der Verschuldung Einhalt gebieten sollten. Mittels (teilnehmender) Beobachtung, Interviews und Umfragemethoden werden die Forscher und Forscherinnen die vielfältigen Facetten der Haushaltsverschuldung untersuchen, unter anderem die Erfahrungen von Schuldnern und Kreditgebern, die politischen Ziele von Schuldnerbewegungen sowie staatliche Prozesse wie Insolvenzverfahren für Privatpersonen und Bildungsangebote zum Thema Finanzkompetenz. Basierend auf Ethnographien und einem historisch-anthropologischen Ansatz wird die Forschungsgruppe „Verschuldung in der Peripherie“ ein umfassendes Bild der postsozialistischen osteuropäischen Erfahrung der Haushaltsverschuldung erstellen, das auch Rückschlüsse für die Forschung über Haushaltsverschuldung und Finanzialisierung im Allgemeinen ermöglicht.
photo oben © Henryk Borawski unter CC BY-SA 3.0 licence, zugeschnitten