Max-Planck-Forschungsgruppe - Alpine Geschichten
Alpine Geschichten des globalen Wandels: Zeit, das Eigene und das Fremde im deutschsprachigen Alpenraum
Mitarbeiter | Projekte | Aktivitäten
Diese unabhängige Max-Planck-Forschungsgruppe versucht, die vermehrte Bedeutung von Fragen der Zugehörigkeit, Ortsverbundenheit und Entfremdung am Scheideweg eines global vernetzten Europas zu verstehen. Sie beschäftigt sich mit der Rolle von lokalen, alltäglichen Auseinandersetzungen mit Geschichte in ländlichen, "vergessenen" Orten, die oft als rückständig, traditionalistisch und "ewiggestrig" abgestempelt werden. Der Fokus der Forschung liegt auf Berggemeinden im deutschsprachigen Alpenraum, welche einerseits durch lange Geschichten des globalen Austausches gekennzeichnet sind, andererseits aber auch durch die Unterstützung anti-kosmopolitischer politischer Bewegungen. Indem untersucht wird, wie die Einwohner und Einwohnerinnen dieser Dörfer die Vergangenheit erleben, erzählen, performen, diskutieren und ausverhandeln, versucht die Forschungsgruppe die Rolle von alltäglichen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit in einer von beschleunigtem Wandel und Unsicherheit geprägten Zeit besser zu verstehen.
Forschungsfragen
Eines der Hauptspannungsfelder, das die Forschungsgruppe thematisiert, ist das Potenzial von Geschichte als "sozialer Leim", der Gemeinschaften zusammenschweißt, und als Mittel zur Exklusion von "Anderen", die außerhalb einer geteilten Zeit platziert werden. Sie ist von der Frage geleitet, wie Menschen, die in Dörfern im deutschsprachigen Alpenraum leben, sich aktiv Lesarten von Geschichte aneignen, und welche soziale Arbeit solche lokalen Alltagsgeschichten verrichten: Wann werden sie zu einem Mittel für die Erzeugung sozialer Nähe und wann werden sie dazu verwendet, um Gruppen und Individuen als "anders" abzustempeln oder zu exkludieren? Wie werden lokale Lesarten der Vergangenheit in die Textur des Alltags verwoben und normalisiert? Und inwiefern können sie uns etwas über das Alltagsleben in einer globalen, "überhitzten" (Eriksen 2016) Gegenwart erzählen?
Zusammensetzung der Forschungsgruppe
Die Forschungsgruppe versucht, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, indem sie auf das soziale Leben von Berggemeinden in den österreichischen, schweizerischen und italienischen Alpen einzoomt. Die Gruppe wird von Annika Lems geleitet, die im österreichischen Bundesland Kärnten forscht. Das Team besteht außerdem aus der visuellen Anthropologin Christine Moderbacher, deren Forschung auf Südtirol fokussiert, sowie dem Historiker Markus Wurzer, welcher die Spuren von Kolonialismus und Faschismus in Südtiroler Familienerinnerungen erforscht. Zu einem späteren Zeitpunkt wird sich Danae Leitenberger der Gruppe anschließen, deren Forschung im Berner Oberland in der Schweiz angesiedelt ist. Um die Diskussion und Kommunikation mit einem breiteren, nicht-wissenschaftlichen Publikum zu fördern, sowie zur Entwicklung visueller Forschungstools, arbeitet die Gruppe zudem mit dem Anthropologen und Filmemacher Paul Reade zusammen.
Dorfethnografien
Der Fokus auf die alltägliche Produktion von Geschichte anhand tiefgehender teilnehmender Beobachtung in Geschichts- und Traditionsvereinen sowie bei Erinnerungsveranstaltungen ermöglicht es dem Team, die politischen und erfahrungsbezogenen Arten und Weisen zu erforschen, durch die alpine Gemeinschaften ihre Verortung in der Zeit verhandeln. Diesen gemeinschaftlichen/geteilten Geschichten werden individuelle Lebensgeschichten und die Arbeiten von Historikern und Historikerinnen gegenübergestellt, um besser zu verstehen, wie offizielle, kommunale und persönliche Lesarten von Geschichte sich gegenseitig formen und umformen. Kreative Forschungsansätze wie Film, Fotografie und Storytelling sollen der Forschungsgruppe dabei helfen, einen tieferen Einblick in affektive, sinnesbetonte und nicht-narrative Wege zu erlangen, durch die Menschen einen Bezug zur Vergangenheit herstellen.
Durch den Vergleich soziokultureller Praktiken in vier alpinen Gemeinden mit ausgeprägten Geschichten globaler Vernetzung und anti-kosmopolitischer Einstellungen möchte die Forschungsgruppe die komplexe und oftmals auch widersprüchliche Art und Weise aufzeigen, wie Menschen versuchen, zeitliche Kontinuität in einer von rasendem Wandel geprägten Welt zu erzeugen. Die Gruppe setzt bewusst auf eine Wiederbelebung der Dorfethnografie als zentrales Forschungsinstrument, um den gelebten Alltag in einer hypermobilen und vernetzten Welt besser zu verstehen und der Vernachlässigung des ländlichen Raums in Studien der Globalisierung entgegenzuwirken. Dadurch sollen Menschen und Orte, die über längere Zeit hinweg an den Rand wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussionen verbannt wurden, zurück ins Zentrum globaler Prozesse gebracht werden.
Zitierte Literatur: Eriksen, Thomas Hylland. 2016. Overheating : An Anthropology of Accelerated Change. London: Pluto.