Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft

Forschungsbericht (importiert) 2009 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann
Abteilungen
Jenseits von Grenzen: Staatsbürgerschaft und Identität in Kaukasien und der Türkei (PD Dr. Lale Yalçın-Heckmann)
MPI für ethnologische Forschung, Halle/Saale
Zusammenfassung
Der Kaukasus wird häufig als eine Region von ethnonationalen Konflikten gesehen. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung gehen von einer anderen Perspektive aus. Sie zeigen, wie zivile, politische und soziale Komponenten interagieren und wie Formen der Staatsbürgerschaft im Spannungsfeld historischer und gegenwärtiger Bedeutungen und Praktiken ausgehandelt werden. Die soziale Komponente der Staatsbürgerschaft scheint weiterhin relevant zu sein – besonders für Flüchtlinge und Migranten.

Der Kaukasus ist eine Region, die für Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen bekannt ist; sie ist aber ebenso bekannt für ihre wunderschönen Berge, die Gastfreundschaft der Menschen und die Vielfalt ihrer Sprachen (Abb. 1). Wissenschaftliche Untersuchungen des Südkaukasus behandeln Ethnonationalismus, der sich auf Basis der vorgestellten gemeinsamen ethnischen Herkunft und Kultur definiert, als ein zentrales Phänomen der Region und als Auslöser für alle bedeutenden politischen Konflikte der postsozialistischen Ära. Die Forschungsgruppe „Caucasian Boundaries and Citizenship from Below“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung wählte eine andere Perspektive. Ziel der Forschungen war es, die Annahme zu hinterfragen, dass die ethnonationalen Unterschiede alle Spannungen und Konflikte zwischen den ehemaligen und derzeitigen Staaten der Region erklären können.

Die Forscher untersuchten daher Vorstellungen und Praktiken von Staatsbürgerschaft und blickten aus der Perspektive der politischen Anthropologie auf die neuen unabhängigen Staaten dieser Region. Gerade vor dem Hintergrund der neuen Regelungen zur Staatsbürgerschaft sowie neuer Mobilitäts- und Migrationsstrukturen im Südkaukasus und der größeren Region – einschließlich der Türkei und Russischen Föderation – ist dieses Thema von großer Bedeutung. Die Untersuchung sozialer Ungleichheit, die sich in der Nachkriegszeit durch postsozialistische Transformationen verschärfte, verlangt ebenfalls nach einem alternativen Ansatz zu ethnonationalistischen Erklärungen, um die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern zu verstehen.

Der Forschungsansatz greift drei klassische Komponenten der Staatsbürgerschaft auf, die der britische Soziologe T. H. Marshall in den 1940er-Jahren definiert hat: die zivile (etwa Redefreiheit, Recht auf Eigentum), politische (passive und aktive Machtausübung, freie und geheime Wahlen) und soziale Komponente. Letztere beschreibt Marshall als das Recht auf ein Mindestmaß an finanzieller und sozialer Sicherheit, als ein Recht auf Teilhabe am sozialen kulturellen Erbe und auf ein Leben als zivilisierter Mensch [1]. Die neuen unabhängigen Staaten des Südkaukasus haben beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft die zivile und politische Komponente teilweise eingeführt: Sie kennen jetzt das Privateigentum und halten Wahlen ab. Die soziale Komponente, durch die der Staat soziale Sicherheit und Gleichheit garantiert, erscheint allerdings unterentwickelt.

Die Untersuchung der Praxis und der unterschiedlichen Verständnisse von Staatsangehörigkeit ergab die in den folgenden drei Themenblöcken zusammengefassten Ergebnisse:

Soziale Staatsbürgerschaft und Migration

Mit seiner hohen Abwanderungsrate ist West-Georgien typisch für die Region. Gerade diese Region war zuvor massiv von staatlichen Subventionen der Kohleindustrie und Teeplantagen abhängig. Beide Wirtschaftszweige befanden sich zum Ende des Sozialismus im Abschwung. Im Anschluss wurden die Betriebe aufgelöst, privatisiert und verkleinert. Neben Subsistenzwirtschaft und einigen wenigen verbliebenen staatlichen Stellen sind die Menschen auf Abwanderung ausgerichtet: Nach Teona Mataradze hatten 17 Prozent der befragten Haushalte mindestens einen Migranten im Ausland und 10 Prozent eine Person, die innerhalb Georgiens migrierte, vor allem in die Hauptstadt Tiflis. Durch ihre finanzielle Unterstützung in Form von Überweisungen übernehmen die Migranten die Rolle des Staates im Bereich der sozialen Staatsbürgerschaft.

Eine andere Art der Migration im Südkaukasus ist die Zwangsmigration. Kriege und militärische Konflikte gingen zum Teil mit ethnischen Säuberungen einher, sodass Hunderttausende flüchteten, entweder innerhalb ihres Landes oder in ein anderes Land. Wie diese Flüchtlinge und Vertriebenen mit den neuen Staaten und ihrem eingeschränkten Status umgehen, ist ein zentrales Thema für die Forschungsgruppe. Am Beispiel von armenischen Flüchtlingen, die zwischen 1988 und 1992 aus ihren Heimatgebieten in Aserbaidschan nach Armenien geflohen waren und in staatlichen sogenannten „Übergangsunterkünften“ lebten, lässt sich zeigen, dass vor allem die Erlangung der formalen Staatsbürgerschaft strategisch sinnvoll war, ganz im Gegensatz zu den Dimensionen der kulturellen Staatsbürgerschaft und nationalen Zugehörigkeit. Armenische Flüchtlinge glauben, dass Armenien als Land und als Staat die endgültige Heimat für alle Armenier sein sollte, besonders nachdem sie aus anderen Regionen vertrieben wurden, die sie ebenfalls als ihre Heimat betrachten. Laut Milena Baghdasaryan lehnten einige Flüchtlinge die formale Staatsbürgerschaft als Zeichen des Protestes gegen das nunmehr fast zwanzig Jahre währende Fehlen von staatlichen Sozialleistungen und Unterkünften ab.

Mobilität und Staatsbürgerschaft

In den kleinen Staaten des Südkaukasus spielen historische und aktuelle Mobilitätsmuster eine wichtige Rolle für Staatsbürgerschaftspraktiken. Die neuen Staaten erlauben unterschiedliche Grade von Mobilität, was die Praktiken der Bürger einschränkt. Die Tuschen, eine Wanderweidewirtschaft betreibende und traditionell im georgischen Hochland an der Grenze zu Tschetschenien und Dagestan angesiedelte ethnische Gruppe, haben durch ihre neue staatliche Zugehörigkeit zu Georgien erheblich an räumlicher Mobilität verloren. Vor diesem Hintergrund untersucht Florian Mühlfried, welche Bedeutung die Staatsbürgerschaft für die Tuschen hat: Wie prägen Erinnerungen an den programmatisch anti-bürgerlichen sowjetischen Staat heutige Vorstellungen und Praktiken von Staatsbürgerschaft, und wie konkurrieren sie mit ihnen?

Das paradox erscheinende Ergebnis ist, dass die Tuschen dem neuen Nationalstaat und ihrer Staatsbürgerschaft unterschiedliche Wertigkeiten zuschreiben. Auf der einen Seite wird der georgische Nationalstaat fast durchweg gepriesen und der Sowjetunion vorgezogen. Auf der anderen Seite wird die georgische Staatsbürgerschaft im Vergleich zur sowjetischen allgemein als minderwertig betrachtet. Staatsbürgerschaft kann jedoch auch ein Mittel der politischen Manipulation und Durchsetzung makropolitischer Interessen im Kaukasus darstellen [2].

Alle südkaukasischen Staaten haben die Marktwirtschaft übernommen und eine liberale Wirtschaftspolitik eingeführt, jedoch ist der gleichzeitige Anstieg der informellen Wirtschaft in der Region bemerkenswert (Abb. 2). Ausgehend von dieser Beobachtung wurde das Forschungsinteresse auf den Auf- und Abschwung informeller Wirtschaft in Aserbaidschan gelenkt: Wie beeinflusst Staatsbürgerschaft das wirtschaftliche Verhalten, Transaktionen und politische Ansichten von Aserbaidschanern?

Internationale Produkte werden inzwischen in den meisten großen Städten der Region angeboten. Ironischerweise scheinen die Menschen allerdings während des Sozialismus eine andere wirtschaftliche Mobilität besessen zu haben als jetzt in der Ära der freien Marktwirtschaft. In einer Kleinstadt in West-Aserbaidschan fuhren Händler, die nahe der georgischen Grenze und nur 50 Kilometer entfernt von der georgischen Hauptstadt Tiflis leben, zum Großmarkt in Baku, ganze 450 km östlich, um dort zu handeln und Produkte für den örtlichen kleinen Markt in der Grenzstadt einzukaufen. Dies folgt offensichtlich keiner wirtschaftlichen Logik, wohl aber der Logik der neuen Pässe und Reisedokumente. Tiflis ist zwar nah, aber grenzüberschreitend für Kleinhändler kaum erreichbar. Es ist das Handelszentrum, in das viele westliche Konsumgüter geliefert werden, allerdings wird der Handel damit von monopolistischen Händlerklans und Familiennetzwerken kontrolliert. Diese Mächtigen halten zudem zentrale staatliche Ämter und kontrollieren so die wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten.

Grenzen und Staaten

Ein anderes zentrales Thema der Forschungsgruppe war die Präsenz von Grenzen im Alltag der Menschen. Zuvor war lediglich die Grenze zur Türkei eine politisch wichtige, aber undurchlässige Grenze, doch jetzt haben die Grenzen zwischen den neuen Staaten an Bedeutung gewonnen. Einer der Forschungsorte, an dem sich Nino Aivazishvili aufhielt, ist nur 15 Kilometer von der aserbaidschanisch-georgischen Grenze entfernt. Ein legaler Grenzübertritt ist jedoch nicht möglich, da es keinen offiziellen Grenzposten gibt. Die örtliche Bevölkerung erinnert sich noch daran, dass die Grenze zu Sowjetzeiten kaum wahrnehmbar war und dass die Menschen eine Brücke und einfache Fährboote nutzten, um nach Georgien und zurückzugelangen. Die ethnischen Ingiloer gingen nach Georgien, um auf Kolchosen oder Baustellen zu arbeiten, da dort die Bezahlung besser war. Die Präsenz und die neue Relevanz der Grenze im Leben der Ingiloer verweisen auf neue Kontexte von politischer Zugehörigkeit und begrenzter Mobilität.

Nach der Auflösung der Sowjetunion wurde die Grenze zur Türkei sehr viel durchlässiger. Das Grenzgebiet Georgiens, der Türkei und Armeniens ist im Hinblick auf Entvölkerung, Eigentum und Nutzung von Land sowie Beanspruchung und Enteignung von Land ein historisch sehr komplexes Gebiet. Während des Sozialismus hatte die türkische Seite für ihre Grenzregion das Image aufgebaut, dass sie die Demokratie und den Westen vor dem sowjetischen Block schütze. Nach Neşe Özgen kann dieses Image nun nicht mehr aufrechterhalten werden, und die Bevölkerung muss ihre kulturelle Zugehörigkeit mit anderen Argumenten begründen, als einfach nur „patriotische Grenzwächter“ zu sein. Das Umschreiben und Neuverhandeln von Zugehörigkeit und Diskurse über „gutes Bürgersein“ eröffnen auch eine neue Sicht auf die sowie ein Umschreiben der Geschichte des Landes und der Macht in der Region. Mit dem Bau der neuen Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline und dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich durch veränderte Strategien und Diskurse neue wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten ergeben. Diesmal fußen die Diskurse auf den Prinzipien von globaler Gouvernementalität und Rechten und Ansprüchen, nicht einfach nur auf nationaler Staatsbürgerschaft (Abb. 3).

Schlussfolgerungen

Staatsbürgerschaft als eine generelle Kategorie der formalen Zugehörigkeit mit politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen spielt im Leben der Menschen im Südkaukasus eine wichtige Rolle. Noch wichtiger ist die Unterscheidung verschiedener Komponenten von Staatsbürgerschaft im Sinne Marshalls: Soziale Staatsbürgerschaft wird mit Hinblick auf Ansprüche gegenüber dem Staat, der sich aus seiner sozialen Verantwortung zurückgezogen hat, sehr ernst genommen. Historische Staatsbürgerschaftskonzepte sind am stärksten im Gespräch, wenn dieser soziale Aspekt angesprochen wird, jedoch weniger wenn es um zivile Aspekte geht. Die Forschungsgruppe „Caucasian Boundaries and Citizenship from Below“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung argumentiert daher, dass verschiedene Aspekte von Staatsbürgerschaft aktiviert und differenziert werden können, abhängig von den historischen Erfahrungen und aktuellen wirtschaftlichen und politischen Belangen. Die traditionelle Auffassung und Zusammensetzung von Staatsbürgerschaft kann nicht einfach als irrelevant für die moderne, globale Ära angesehen werden. Vielmehr müssen Formen der Staatsbürgerschaft empirisch untersucht und neu bewertet werden, besonders im Rahmen der politischen Anthropologie.

Originalveröffentlichungen

1.
T. H. Marshall:
Citizenship and Social Class and Other Essays.
University of Cambridge Press, Cambridge 1950.
2.
F. Mühlfried:
Citizenship at War: Passports and Nationality in the 2008 Russian-Georgian Conflict.
Anthropology Today 26(2), 8–13 (2010).
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