Recht und die Konstruktion von Kulturerbe: Das Fallbeispiel Kurische Nehrung (Litauen)
Forschungsbericht (importiert) 2006 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung
Wo die Memel durch ein Delta ins Haff mündet, trennt eine schmale Landzunge Ostsee und Haff: Die Kurische Nehrung, ein achtundneunzig Kilometer langer Sandstrich, der heute je zur Hälfte zu Litauen und zum Kaliningrad Oblast (Russland) gehört. Im Jahr 2000 wurde die Nehrung und damit sowohl die einzigartige Dünenlandschaft als auch das Kulturerbe der kurischen Fischerbevölkerung, Wohnhäuser, Kirchen und Friedhöfe in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen. Auf der Grundlage der UNESCO-Statuten zählt die Nehrung – wie die anderen 829 Welterbestätten – zu einem „herausragenden Zeugnis der Geschichte der Menschheit und der Natur“ [1]. Die UNESCO versteht „Kulturerbe“ vor allem unter dem Gesichtspunkt des Bewahrens und Schützens von Relikten aus der Vergangenheit.
Ethnologen haben ein anderes Verständnis von Kulturerbe. Für sie ist Kulturerbe vor allem eine kulturelle Konstruktion, die in der Gegenwart erfolgt und sich auf die Vergangenheit bezieht [2]. Die ethnologische Forschung interessiert sich für diese unterschiedlichen Deutungen der Vergangenheit. Sie fragt danach, welche Aspekte aus dem unerschöpflichen historischen Fundus bestimmte Interessengruppen in der Gegenwart für bewahrenswert halten und welche sozialen, politischen und ökonomischen Ziele möglicherweise damit verfolgt werden. Die Produktion kulturellen Erbes ist also ein Prozess, in dem verschiedene Akteure mit oft sehr unterschiedlichen Normen, rechtlichen Vorstellungen und Gesetzen aufeinandertreffen und darüber verhandeln, wer die Interpretations- und Repräsentationsmacht über spezifische Kulturgüter besitzt.
Das Forschungsprojekt „Recht und die Konstruktion von Kulturerbe: Das Fallbeispiel Kurische Nehrung“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung konzentriert sich auf den Ort Nida (dt.: Nidden) auf der litauischen Seite der Kurischen Nehrung. Untersucht werden der Umgang, die Praxis und die rechtliche Verfasstheit konkurrierender Kulturerbe-Entwürfe vor dem Hintergrund sich wandelnder nationalstaatlicher Zugehörigkeiten dieser Region.
Die Kurische Nehrung im Wandel
Die Geschichte der Kurischen Nehrung ist von einer wechselvollen nationalstaatlichen Zugehörigkeit geprägt. So gehörte der Ort Nidden/Nida bis 1918 zu Ostpreußen und dem deutschen Reich, stand bis 1923 unter französischem Mandat, wurde dann 1923 von Litauen besetzt, 1939 dem Dritten Reich zugeschlagen, 1945 der Sowjetunion unterstellt und ist seit 1990 litauisch. Dieser nationalstaatliche Wandel hatte einen radikalen Bevölkerungsaustausch am Ende des Zweiten Weltkrieges zur Folge.
Unabhängig von der staatlichen Zugehörigkeit betrachtete sich die lokale, ethnisch kurische Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als deutsch. Deshalb flüchtete nahezu die gesamte Dorfbevölkerung Ende 1944 in Richtung Westen. Durch Anwerbeprogramme siedelten sich in den fünfziger Jahren vor allem Litauer aus anderen Landesteilen auf der Nehrung an und schufen ein „neues“, sozialistisches Nida, das die „touristische Perle der Sowjetunion“ werden sollte. Für die Deutschen hingegen verschwand das Dorf hinter dem eisernen Vorhang, während Nidden gleichzeitig zu einem nostalgischen Ort der Erinnerung und der unstillbaren Sehnsucht nach der verlorenen Heimat wurde. Die Unabhängigkeit Litauens im Jahr 1990 ermöglichte es den ehemaligen deutschen Bewohnern erstmals, die alte Heimat zu besuchen. Viele „Heimwehtouristen“ brachen auf, um die Orte der eigenen Erinnerung oder des deutschen kulturellen Erbes im Osten zu bereisen. Da Nida eine gute Infrastruktur für westeuropäische Touristen bietet, wurde der Ort zum Zentrum der deutschen „Erinnerungstouristen“. Zugleich entwickelte sich Nida in den vergangenen fünfzehn Jahren zu einem neuen nationalen Vorzeigeort für die litauische Elite.
Diese hier kurz skizzierte und überaus wechselhafte Geschichte bietet vielen Interessengruppen die Möglichkeit, auf „ihr“ Kulturerbe zurückzugreifen und damit verschiedene Interpretationen in der Auseinandersetzung um die touristische Gestaltung des Ortes geltend zu machen.
Das Recht der Vergangenheit
Das folgende Beispiel des zum Weltkulturerbe gehörenden Friedhofs in Nida veranschaulicht, wie unterschiedliche Vorstellungen von Kulturerbe nebeneinander bestehen können. Rechtsvorstellungen, die aus verschiedenen historischen Epochen stammen, prägen das Handeln von Individuen und Gruppen und werden zur Durchsetzung von Interessen in der Gegenwart verwendet [3].
Während eines Forschungsaufenthalts in Nida begleitete eine Forscherin des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung eine litauische Reiseleiterin, die eine deutsche Reisegruppe über den „ethnographischen Friedhof“ von Nida führte.
Die Gruppe betrat den Friedhof durch das Eingangstor, das erst im Jahr 2002 auf Initiative ehemaliger heute in Deutschland lebender Niddener rekonstruiert worden war. Es trägt in litauischer und deutscher Sprache die Aufschrift: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Ohne auf die Besonderheit dieses Eingangstores hinzuweisen, gab die Reiseleiterin zunächst Erläuterungen zu den hölzernen Grabplatten auf dem Friedhof und erklärte den ethnographischen Hintergrund folgendermaßen: „Die Kuren waren ein altes baltisches Volk mit sehr exotischen und fremden Sitten und Gebräuchen, einzigartig für Litauen. Viele dieser Kreuze sind litauische krikstai. Diese krikstai können wie Pferdeköpfe oder wie Vögel geschnitzt sein und werden am Fußende des Grabes aufgestellt. Die Kuren glaubten, dass die Toten, wenn sie aufstehen wollten, sich an diesen Brettern hochziehen konnten."
Außerdem verwies die Reiseleiterin darauf, dass der ethnographische Friedhof zum litauischen Weltkulturerbe zähle und dass das zuständige Amt sich um diese Raritäten kümmere und sie schütze. Während die Reiseführerin weitere Ausführungen zu den vorchristlichen Kuren machte, war eine ältere Frau dabei, ein Grab zu säubern und neue Blumen zu pflanzen. Die alte Dame war verärgert über die Ausführungen der Reiseleiterin und erklärte: „Dies ist das Grab meiner Großeltern. Ich bin in Nidden geboren, meine Eltern sind auch in Nidden geboren worden, meine Großeltern ebenfalls. Wir waren gute Protestanten und haben unsere Toten christlich beerdigt. Viele von uns haben Holzkreuze geschnitzt. Kurenkreuze? Das war bei uns doch schon fast vergessen. Warum redet die Reiseführerin immer nur von den alten Kuren? Warum redet sie nicht von uns? Wir haben hier gelebt, wir waren Deutsche.“
Die 75-jährige Deutsche reist seit 1990 jedes Jahr auf die kurische Nehrung und verbringt viel Zeit damit, die Gräber ihrer Verwandten zu pflegen. Für sie verweist dieser Friedhof genauso wie die Kirche auf die deutsche Vergangenheit des Ortes. Ihrer Vorstellung nach hat sie das Recht, die Gräber zu pflegen, da ihre Familie zur damaligen Dorfgemeinschaft gehörte und sie einen direkten verwandtschaftlichen Bezug zu den Toten hat. Wie viele andere „alte Niddener“ auch hat sie Geld für die Rekonstruktion des Friedhofstores und der alten evangelischen Kirche gespendet. Die „alten Niddener“ sind daran interessiert, symbolisch bedeutsame Orte, die an die deutsche Zeit erinnern, nach historischem Vorbild wiederherzustellen. Ausgangspunkt für ihr Handeln ist dabei ihre persönliche Erinnerung an das Nidden vor 1945. Sie rechtfertigen ihre Aktivitäten, indem sie sich auf ihre deutschen Bürger- und Familienrechte aus der Vorkriegszeit beziehen. Dieses Beispiel zeigt, dass Rechtsvorstellungen, die einer vergangenen Rechtsordnung entspringen, diese überdauern und unter veränderten geopolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen eine neue Bedeutung für das Handeln in der Gegenwart erhalten können.
Auch die Beschreibungen der litauischen Reiseleiterin offenbaren rechtlich-normative Vorstellungen im Hinblick auf die Wahrnehmung und Nutzung des Friedhofs. Sie stammen aus einer anderen historischen Periode, der Sowjetzeit. Während dieser Zeit wurde die deutsche Vergangenheit der Region negiert und tabuisiert, zugleich wurde die Geschichte der verschiedenen ethnischen Gruppen vor dem Hintergrund einer marxistischen Geschichtsauffassung beschrieben [4]. So wurden in der Sowjetzeit aus den „deutschen Kuren“ durch die Mobilisierung einer weiter zurückliegenden Vergangenheit „litauische Kuren“, und aus dem deutschen Friedhof wurde ein ethnographischer Friedhof. Die Reiseleiterin präsentiert die Welt der vorchristlichen Kuren, die im 15. Jahrhundert aus dem Kurland im heutigen Lettland auf die Nehrung kamen.
Die als fremdartig stilisierten Grabplatten, die auf dem Friedhof zu bestaunen sind, scheinen in dieser verkürzten touristischen Darstellung direkt aus jener Zeit zu stammen. Tatsächlich handelt es sich aber um Nachbildungen, die nach 1975 von einem Künstler aus Nida als Erinnerung an die deutsch-kurische Vergangenheit geschaffen und dann als litauisch-sowjetisches Kulturerbe Sowjettouristen gezeigt wurden. Auch in der gegenwärtigen Interpretation der Reiseleiterin wird ein litauisches Kulturerbe der Kuren geschaffen, das vor allem auf den (touristischen) Umgang mit der Vergangenheit in der Gegenwart verweist. Einzelne Objekte wie die Kurenkreuze werden dabei aus ihrem historischen Zusammenhang gelöst und für den touristischen Konsum umgedeutet. Fakten, wie Christianisierung und Germanisierung der Kuren und dass die Kreuze keine Originale sind, sind für die touristische Präsentation unwichtig.
Gleichzeitig spiegelt der Diskurs der Reiseleiterin die nationale Bedeutung von Kulturerbe als wichtige Ressource im Nationenbildungsprozess wider. Tatsächlich spielte in Litauen – wie in anderen baltischen Staaten – der Rückgriff auf alte Traditionen, die neu definiert wurden, eine besondere Rolle in der nationalen Unabhängigkeitsbewegung [5]. So tragen revitalisierte Traditionen, Folklore- und Kulturerbe-Präsentationen wesentlich zur nationalen Identitätsbestimmung im Transformationsprozess bei. Zugleich hat Kulturpolitik, gerade auch in Bezug auf das Kulturerbe, eine spezielle Funktion im Aufbau und Ausbau internationaler Kontakte nach der Überwindung der jahrzehntelangen Isolation vom Westen. Die Tatsache, dass die kurische Nehrung sowie drei weitere litauische Orte auf die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen wurden, bedeutet für Litauen internationale Anerkennung und Präsenz.
Die Pluralisierung von Kulturerbe-Entwürfen
Das Geschehnis auf dem Friedhof beweist, dass vergangenes Recht in der sozialen Praxis gegenwärtiger Akteure nachwirkt und es dadurch zu einem komplexen Nebeneinander von Kulturerbe-Entwürfen gekommen ist. Dabei stehen die Rechtsvorstellungen der ehemaligen deutschen Bewohner dem hegemonialen litauischen Recht gegenüber. Formalrechtlich besitzen die lokalen und nationalen litauischen Akteure die Gestaltungsmacht über den Ort und die dort präsentierten Kulturerbe-Darstellungen. Allerdings stellen die Touristen eine wichtige ökonomische Einnahmequelle dar, auf die die Tourismusbranche angewiesen ist. Deutsche Erinnerungsstätten werden daher von litauischer Seite auf der kurischen Nehrung durchaus akzeptiert, sofern man damit Touristen gewinnen kann. Auf die Kulturerbe-Diskurse hat dies bislang keinen Einfluss, Litauer und Deutsche beziehen sich in ihren Beschreibungen auf Rechtsordnungen unterschiedlicher Epochen. Dies führt dazu, dass, wie im Falle des Friedhofs, gleiche Orte zu gleicher Zeit gänzlich anders interpretiert werden und so verschiedene Kulturerbe-Konstruktionen auf der Basis unterschiedlicher Rechtsnormen nebeneinander existieren. Dies muss nicht so bleiben. Es ist es denkbar, dass in einigen Jahren das Interesse an nationalen Sichtweisen auf die Vergangenheit abnimmt und gemeinsame, europäische Kulturerbe-Diskurse im Mittelpunkt des Interesses stehen.