Workshop-Bericht 'Urban Precarity'
Konturen des `Urbanen Prekariats´
Für viele Menschen bedeutet das Leben in Städten ein Leben unter prekären Bedingungen – in ökonomischer, sozialer, moralischer und gesundheitlicher Hinsicht. Denn Urbanität ist durch hohe Anonymität, die physische Nähe zu Fremden und die Abhängigkeit von Geld geprägt. Dabei wird die Stadt auch als ein Umfeld wahrgenommen, das sich in ständigem Wandel befindet. Hier treffen transnationale Ströme von Menschen, Ideen und Kapital aufeinander. Unsicherheit, Risiko und Verletzlichkeit sind die Herausforderungen, die das Leben in der Stadt mit sich bringt.
Und es scheint so, dass sich die Risiken in der Stadt unter der Herrschaft des globalen Spätkapitalismus noch weiter vergrößert haben. Denn der Zugang zu sicheren Jobs und Fürsorge wird zunehmend fragiler und verändert Lebensläufe auf unvorhersehbare Weise. MigrantInnen und verarmte Klassen werden in verfallene und stigmatisierte Nachbarschaften gedrängt, wo sie zum Gegenstand der Angst und Verachtung werden. Die mediale Berichterstattung über urbane Katastrophen lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit auf Schauplätze wie Grenfell, Barcelona oder Kabul. Und so werden die Bewohner und Touristen in den Städten daran erinnert, dass die schönen Orte und kulturellen Sehenswürdigkeiten – die manchmal auch ihre Heimat sind –zu Todesfallen werden könnten. In der Stadt kann dein Nachbar jederzeit zu deinem Todfeind werden.
Vom 27. bis zum 29. März 2019 kamen führende Stadtethnologen am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale) zusammen, um die Beziehung zwischen Urbanität und Prekariat kritisch zu hinterfragen. Jeder der zehn Teilnehmer präsentierte aktuelle ethnographische Daten. Die Vorträge wurden in fünf Panels gegliedert, die jeweils einen eigenständigen Zusammenhang zwischen Urbanität und Prekariat untersuchten.
Günther Schlee, Direktor der Abteilung `Integration und Konflikt´, eröffnete den Workshop und begrüßte die Teilnehmer. Anschließend führten die beiden Organisatoren des Workshops, Christian Laheij und Brian Campbell (beide MPI für ethnologische Forschung) vor dem Hintergrund ihrer Feldforschung in Mosambik und Spanien in die zentralen Themen des Forschungsfeldes „urbanes Prekariat“ ein.
Städte kontrollieren – Legales Prekariat, Migration und die Gestaltung von Urbanität
Auf diese einleitenden Worte folgte das von Christoph Brumann (MPI für ethnologische Forschung) moderierte Panel, das sich damit auseinandersetzte, wie durch die Überwachung in Städten die urbanen Landschaften und Lebensrhythmen beeinflusst werden. Nolan Kline (Rollins College) beschrieb, wie in Atlanta (USA) Polizeikontrollen und Straßensperren die sozialen Netzwerke von MigrantInnen stören, ihre Mobilität beeinträchtigen und den Zugang zu Jobs und dem Sozialsystem behindern. Anschließend zeigte Agathe Menetrier (MPI für ethnologische Forschung) in ihrem Vortrag, wie die Kriminalisierung von Homosexualität die Lebenswege von queeren Asyl-Suchenden in Dakar (Senegal) prägt. Diese MigrantInnen sind in einer Zwickmühle, denn um Hilfe zu bekommen, müssen sie in den Augen der UN-Vertreter möglichst hilflos wirken. Gleichzeitig aber müssen sie mit anderen Asyl-Suchenden oder wohlhabenden Gönnern starke Allianzen schmieden, um in der hochgradig homophoben Umgebung zu überleben. Dakar ist – besonders bei Nacht – ein Ort der Angst und voller Gefahren, aber auch ein Ort der neue Chancen eröffnet, der Selbstbestimmung erlaubt und der Veränderungen ermöglicht. Die Diskussion wurde von John Comaroff (Harvard Universität) eingeleitet. Er machte darauf aufmerksam, wie der Staat durch die Kontrolle von Migration zu einem äußerst sichtbaren Verfechter der Ordnung werden kann, während aber gleichzeitig die ökonomischen Bedingungen immer unsicherer werden.
Ausgefranste Ränder – Das Leben an den Stadtgrenzen
Unter dem Vorsitz von James Carrier (MPI für ethnologische Forschung) wurde in der zweiten Sitzung der Idee nachgegangen, dass prekäre Lebensumstände häufig dazu führen, dass Gruppen und Individuen nach außen an die gefährlichen Ränder und Grenzen der Städte gedrängt werden. Julie Soleil Archambault (Concordia Universität) beschrieb wie in Inhambane (Mosambik) ganze Vorstädte umgesiedelt wurden. Die Ränder der Stadt Inhambane haben den Ruf, besonders bedrohliche Orte zu sein. Dem hielt Archambault entgegen, dass die Siedlungen am Rand zwar Unsicherheiten mit sich bringen, dass hier aber auch neue Formen des Wohlstands und der Gemeinschaft entstehen können. In Mosambik ist Prekariat nicht die Abwesenheit von Stabilität, sondern ein Leben ohne die Möglichkeit von Umbruch, Veränderung und Entwicklung. Marwa Ghazali (Universität von Kansas) zeigte im Anschluss daran, wie in Kairo (Ägypten) Menschen, die dazu gezwungen sind, auf Friedhöfen Unterschlupf zu suchen und in Grabdenkmälern zu hausen, in einer Welt leben, in der die Unterscheidung von Leben und Tod ihre Gültigkeit verliert. Denn ihre Beziehungen zu den Toten schließen beispielsweise auch deren Gunst und Fürsorge mit ein. Anne Allison (Duke Universität) merkte in der Diskussion an, dass man Prekariat nicht auf Begriffe wie Risiko oder Unsicherheit reduzieren könne, weil Prekariat auch ein Zustand ist, der Kreativität und die Entwicklung neuer Lebensformen ermöglicht.
Laufende Arbeiten – Sich überkreuzende Mobilitäten und Wege in die Zukunft
Die dritte Sitzung, geleitet von Marian Burchardt (Universität Leipzig) und moderiert von Ursula Rao (Universität Leipzig), untersuchte, in welcher Weise prekäre Zustände erzeugt und reproduziert werden. Denn die Versuche, dem Prekariat zu entkommen, stellen Menschen immer wieder vor neue Gefahren und Widersprüche. Rebecca Bowers (London School of Economics) berichtete über ihre Feldforschung bei Frauen, denen sie dabei gefolgt war, wie sie rastlos zwischen dem armen Leben auf dem Dorf und den Widrigkeiten der alltäglichen Arbeit auf Baustellen in Bengaluru (Indien) hin- und herpendelten. Ihre Liminalität (Schwellenzustand) rückt die Hoffnungen von außerstädtischen MigrantInnen in ein neues Licht und erinnert uns daran, wie sich ländliche und urbane Prekarität gegenseitig bedingen. Katrien Pype (Universität Leuven), die in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo) geforscht hat, argumentierte dafür, dass urbanes Prekariat nicht allein durch soziale Isolation entsteht. Es entsteht vielmehr durch die starke Abhängigkeit und die Willkür von anderen. Ihre InformantInnen greifen bei dem Versuch, über diese Abhängigkeiten die Kontrolle zu bewahren, auf zwei Strategien zurück. Durch neue Formen des Christentums versuchen sie, zwischen Fremden Verpflichtungen herzustellen, um Vertrauen und eine Solidargemeinschaft aufzubauen. Außerdem suchen die Einwohner Kinshasas Zuflucht bei Technologien (z.B. Handys, Apps), die ein „besseres Leben“ versprechen, indem sie soziale Kontakte „ausdünnen“ oder überflüssig machen.
Öffentliche Ordnung – Wie urbanes Prekariat erzeugt, erneuert und beseitigt wird
Vorsitzende der vierten Sitzung war Tabea Scharrer (MPI für ethnologische Forschung). Dieser Teil des Workshops setzte sich mit Strategien auseinander, die urbane Prekarität von oben erzeugen, beseitigen und erneuern. Martijn Oosterbaan (Universität Utrecht) stellte das von der brasilianischen Regierung kürzlich angekündigte Projekt vor, mit dem in den Favelas von Rio (Brasilien) die Ordnung wieder hergestellt werden soll. Es ist nicht das erste Projekt dieser Art und solche Bemühungen haben eine lange Geschichte des Scheiterns, die sich auch architektonisch in den Ruinen von Kontrollposten und anderer polizeilicher Infrastruktur widerspiegelt. Dieses Scheitern führt zu Zynismus gegenüber staatlichen Eingriffen. Denn sie sind nicht geeignet oder gar nicht erst darauf angelegt, Ordnung in den Favelas herzustellen. Die Menschen fühlen sich in dieser Situation marginalisiert und wertlos, gleichzeitig aber bleibt ihnen die Hoffnung auf eine geordnete Zukunft. Rachael Scicluna (Universität von Malta / Ministerium für Familie, Sekretariat für soziale Unterbringung) hinterfragte in ihrem Beitrag ganz ähnliche staatliche Strategien zur Kontrolle des Immobilienmarktes auf Malta, wo die Preise für Grundstücke und Immobilien so in die Höhe schießen, dass für viele Bürger Wohnraum unbezahlbar wird. Die politischen Leitlinien werden dabei von Männern bestimmt. Ihre traditionellen, konservativen, starren und patriarchalischen Vorstellungen von Familie, Heimat, Maskulinität und Unternehmertum führen dazu, dass die politischen Strategien zur Regulierung des Immobilienmarktes nur zum Teil wirksam sind. In ihrem Vortrag sprach sie sich für ein „queering of policy making“ aus, damit die Versuche, die prekären Umstände auf dem Wohnungsmarkt zu beseitigen, nicht in der Reproduktion des Prekariats enden. Der Diskutant der Sitzung Ulf Hannerz (Universität Stockholm) merkte an, dass durch die Beschäftigung mit urbaner Prekarität Themen wie Infrastruktur, Gemeinschaft und städtische Wohlfahrt berührt werden. Diese waren, so Hanertz, aber bereits von anthropologischem Interesse, lange bevor sich die gegenwärtige Debatte rund um das Thema „Prekarität“ entwickelte.
Präsenz markieren – Räumliche Muster der Repräsentation, Integration und Exklusion
Die abschließende Sitzung des Workshops untersuchte, wie urbanes Prekariat durch räumliche Muster der Repräsentation, Integration und Exklusion funktioniert. Mikaela Rogozen-Soltar (Universität von Nevada) zeigte, wie Nachbarschaften in Granada (Spanien) auf unterschiedliche Weise muslimische MigrantInnen ausschließen und einbeziehen. Im alten Stadtteil Albaycin können die Muslime ihre Präsenz legitimieren, weil sie an Granadas gefeierte und verklärte muslimische Vergangenheit erinnern. Die stark orientalisierte und mystifizierte Form des Islams, die hier von der Regierung beworben wird, soll Touristen anziehen und macht Albaycin so zu einem „islamischen Disneyland“. Muslimische MigrantInnen werden ermutigt in dem Viertel Läden zu eröffnen, aber die Beziehungen zu den Kunden bleiben oberflächlich. Denn die MigrantInnen halten diese gesellschaftlich akzeptierte Form des Islam für trivialisiert und nicht authentisch. Außerdem werden die in ihrer Heimat erworbenen Qualifikationen nicht anerkannt und bezahlbarer Wohnraum rückt durch die voranschreitende Gentrifizierung zunehmend außer Reichweite. Diese sozio-ökonomischen Umstände führen dazu, dass Muslime in den stigmatisierten Stadtteil Poligono gedrängt werden, wo sie in verwahrlosten und baufälligen Häusern leben. Trotz dieser prekären Situation sind die Muslime aber in der Lage, wirkungsvolle soziale Bindungen aufzubauen und einen Islam zu praktizieren, den sie für authentischer halten, als die von der Regierung gefördert folkloristische Version. Robin Balliger (San Francisco Kunstinstitut) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Fassadenmalerei in Oakland (USA). Sie zeigte, wie Immobilienmakler versuchen, die lokalen „black traditions“ der politischen Fassadenmalerei zu nutzen, um die Gegend für eine neue Klasse professioneller Eliten attraktiver zu machen. Abgesehen davon, dass die lokale, farbige Gemeinschaft verdrängt wird, führt die Aneignung der Fassadenmalerei zur Verfälschung ihres kollektiven Gedächtnisses und nimmt dieser Form des politischen Widerstands die Durchschlagskraft. Die Sitzung wurde von Asta Vonderau (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) geleitet, die daran anschließende Diskussion eröffnete Nina Glick-Schiller (MPI für ethnologische Forschung).
Ausflug nach Halle-Neustadt: Prekariat in einer Stadt der Zukunft
Die Teilnehmer des Workshops unternahmen auch einen Ausflug nach Halle-Neustadt, wo Frank-Torsten Böger (Geschichtswerkstatt Halle-Neustadt) die Geschichte der Stadt erläuterte. Halle-Neustadt wurde zur Zeit der DDR errichtet, um für junge Industriearbeiter Wohnraum zu schaffen. Nach der Wiedervereinigung setzte jedoch eine starke Abwanderung ein. Heute wird Halle-Neustadt häufig als eine verarmte und gefährliche Nachbarschaft stigmatisiert, die von Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Armut und ethnisch-religiösen Konflikten gekennzeichnet ist. Zahir Abdal-Kareem (MPI für ethnologische Forschung) stellte die wichtigsten Institutionen vor, die von MigrantInnen in Halle-Neustadt aufgebaut wurden. Johanna Ludwig (Quartiermanagement Halle-Neustadt) skizzierte im Anschluss daran die Pläne der Verwaltung, die Gegend wiederzubeleben und zu einer „Stadt der Zukunft“ zu machen.
Schlussfolgerungen für die Konzeptualisierung von „urbanem Prekariat“
Anhand von Fallstudien aus dem globalen Norden und Süden haben sich die Teilnehmer des Workshops damit auseinandergesetzt, warum gerade zum jetzigen Zeitpunkt das wissenschaftliche Interesse am Themenfeld „urbanes Prekariat“ wächst. Der Anregung John Comaroffs folgend, debattierten die Teilnehmer des Workshops die Frage, ob die Angst vor dem Prekariat möglicherweise ein Ausdruck der Probleme ist, mit denen die westlich-urbane Mittelklasse gegenwärtig konfrontiert ist. Allerdings war das Leben in den Städten des globalen Südens seit jeher von Unsicherheit, Risiken, Verletzlichkeit und sozialen Verwerfungen geprägt. Dort werden prekäre Lebenslagen aber oft auch als notwendiges Vorstadium für Veränderungen wahrgenommen.
Wie Günther Schlee (MPI für ethnologische Forschung) während der abschließenden Diskussion anmerkte, wird urbane Prekarität stark mit Stagnation und Frustration in Verbindung gebracht und häufig von Gruppen erlebt, die Status und Prestige zu verlieren haben. Es ist die Angst vor dem Prekariat, die dazu führt, dass Mittelklassen darum kämpfen, genügend ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital anzuhäufen, um sich erfolgreich abgrenzen und behaupten zu können.
Die Teilnehmer zogen das Fazit, dass Prekariat keineswegs nur aus materieller Knappheit besteht. In Anlehnung an die Studien der Ethnologinnen Veena Das und Shalini Randeria wurde städtisches Prekariat als facettenreicher Zustand betrachtet, der moralische, legale, politische, räumliche und ökologische Aspekte beinhaltet. Wie die Beiträge zeigten, sind diese Dimensionen auf komplexe Weise miteinander verwoben. Während für viele Menschen der Versuch, ihr prekäres Leben zu überwinden, mit neuen Gefahren und Irrwegen verbunden ist, kann urbane Prekarität aber auch zu Wohlstand, neuen Hoffnungen, sozialen Beziehungen, Solidarität und affektiven Bindungen führen. Wie Ida Susser (CUNY Graduiertenzentrum) in der Keynote des Workshops, die sich auf ihre lebenslange Erfahrung mit sozialen Bewegungen und ihre aktuelle Feldforschung mit den Gelbwesten in Frankreich bezog, anmerkte, muss Prekariat auch als ein kreativer Zustand gesehen werden. Denn dieser Zustand begünstigt Transformation, „Weltmachung“, radikalen sozialen Wandel und er bringt auf diese Weise Formen politischer Handlungsmacht mit sich, die in der urbanen Dynamik des Spätkapitalismus notwendigerweise experimentell und selten unfehlbar sind.