Märkte in Bewegung. Vietnams Kleinhändler auf dem Weg der Marktwirtschaft

Forschungsbericht (importiert) 2015 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Endres, Kirsten W.
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale)
DOI
Zusammenfassung
Eine Gruppe von Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung untersucht die vielfältigen Facetten des Kleinhandels im heutigen Vietnam. Ihre Arbeiten zeigen, dass sich Märkte auf uneinheitliche Weise konstituieren und transformieren. Dies geschieht maßgeblich im Zusammenspiel von globalen Prozessen, nationalen Entwicklungsvisionen und alltäglichen Interaktionen zwischen Händlern, Lieferanten, Kunden und Amtsträgern.

Vietnams Märkte sind in Bewegung, und zwar im übertragenen wie auch im buchstäblichen Sinn. In Lao Cai, einer Grenzstadt zu China im Norden des Landes, wird derzeit ein neues, modernes Marktgebäude errichtet. Nicht alle sind davon begeistert. „Für uns bedeutet dies vor allem höhere Marktstandgebühren“, sagt eine der rund 350 Händlerinnen. „Der neue Markt wird uns das Leben noch schwerer machen.“

In der Landeshauptstadt Hanoi sind solche Befürchtungen längst Realität geworden. In den vergangenen Jahren wurden einige ältere Märkte abgerissen und durch Luxuskaufhäuser ersetzt. Den alteingesessenen Händlern wurde zwar ein Verkaufsplatz im neuen Gebäude garantiert, doch dieser befindet sich häufig im Untergeschoss. „Viele unserer Stammkunden kaufen jetzt draußen bei den Straßenhändlern“, klagt eine Gemüseverkäuferin. „Da müssen sie nicht einmal vom Moped absteigen“ [1, 2] (Abb. 1).

Auch die Händler und Händlerinnen selbst sind in Bewegung. Eine Straßenverkäuferin hat ihr Schulterjoch mit den schweren Bambuskörben auf einem Gehsteig in der Hanoier Altstadt abgestellt und beobachtet aufmerksam das Geschehen. „Wenn ich nicht aufpasse, konfisziert die Ordnungspolizei meine Waren“, sagt sie. „Aber mit ein bisschen Glück kann ich rechtzeitig weglaufen.“ Ihre Familie lebt auf dem Land und ist auf ihren Verdienst angewiesen, denn für den Lebensunterhalt reichen die landwirtschaftlichen Erträge seit Langem nicht mehr aus.

Im Dorf Ninh Hiep ist der Reisanbau ebenfalls kein einträgliches Geschäft. Doch statt in der nahe gelegenen Hauptstadt Handel zu treiben, haben die Bewohner der 16.000-Seelen-Gemeinde die Ortschaft kurzerhand in einen Markt verwandelt. Besonders gut läuft der Verkauf von Textilien aus China (Abb. 2). Viele Händler fahren jede Woche mit dem Bus nach Guangzhou, um sich nach aktuellen Modetrends umzusehen und neue Waren einzukaufen. In Mong Cai, einer Grenzstadt in der nordöstlichen Provinz Quang Ninh, bieten chinesische Händler und Händlerinnen dagegen ihre Waren direkt vor Ort an. Jeden Morgen überqueren sie die Grenze nach Vietnam, verbringen dort ein paar Stunden auf dem Markt und kehren mittags wieder in die chinesische Stadt Dongxing zurück.

Bewegung, Kontrolle, Ordnung

Diese ethnografischen Fallbeispiele entstammen den Arbeiten der Forschungsgruppe „Händler, Märkte und der Staat in Vietnam“ und werfen kurze Schlaglichter auf die Dynamiken von Mobilität und Verortung, die den Übergang des nach wie vor kommunistisch regierten Landes zu einer sozialistisch orientierten Markwirtschaft maßgeblich prägen. Sie erzählen dennoch eine bekannte Geschichte. Überall auf der Welt haben Modernisierungsprozesse zu neuen Produktionsweisen, Verteilungsstrukturen und Konsumgewohnheiten geführt, die mit Veränderungen räumlicher und sozialer Ordnungen einhergingen.

Märkte waren von jeher Orte der Bewegung von Menschen und Gütern [3]. Der Aufstieg des Nationalstaates machte die Kontrolle solcher Bewegungen zu einem zentralen Anliegen moderner Herrschaft [4]. Zwar war die Regulierung des Marktwesens und die Einhaltung der Marktordnung immer schon ein wichtiges Machtinstrument der Obrigkeit. Als wichtige Knotenpunkte für die Entwicklung neuer Formen des sozialen Ordnens gewannen Märkte jedoch erst im weiteren Verlauf der Geschichte an Bedeutung [5]. Die Pariser Markthallen Les Halles sind ein berühmtes Beispiel. Im 18. Jahrhundert war das große Marktgebiet bereits aus hygienischen Gründen reorganisiert worden. Zwischen 1852 und 1870 dienten weitere Renovierungen als Vorwand dafür, die Verhaltensweisen und Moral einer vorwiegend weiblichen Händlerschaft zu „reinigen“ und ihre wirtschaftliche Macht zu untergraben [6]. In den 1960er-Jahren schließlich signalisierte die Umsiedlung von Les Halles in die Vorstadt Rungis, dass diese Form des Lebensmittelgroßhandels keinen Platz mehr im Zentrum einer globalen Metropole hatte.

Ähnliche Entwicklungen haben über verschiedene Epochen hinweg auch in Vietnam stattgefunden. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert modernisierte die französische Kolonialregierung den indigenen Handel durch den Bau von Markthallen, die europäischen Ordnungs- und Hygienevorstellungen entsprachen. In der Zeit der sozialistischen Transformation, die sich nach 1954 zunächst in Nordvietnam und nach 1975 auch im Süden des Landes vollzog, wurden Händler und Händlerinnen öffentlicher Märkte dazu „ermutigt“, Handelskooperativen beizutreten. Private Handelstätigkeit war zwar durch die rechtlichen und ideologischen Rahmenbedingungen der zentralen Planwirtschaft stark eingeschränkt, kam jedoch entgegen allen Verboten nie völlig zum Erliegen.

Die 1986 eingeleitete Reformperiode führte schließlich zu einem ungeheuren Aufschwung der Wirtschaft und damit auch des Kleinhandels. Doch im Gegensatz zu „modernen“ Unternehmern und Geschäftsleuten erfahren Markthändler wenig soziale Anerkennung und werden zuweilen sogar – ähnlich wie zu Zeiten der Planwirtschaft – als rückständige und ungebildete Überbleibsel einer traditionellen Lebensweise betrachtet [7]. Besonders trifft dies auf die zahlreichen mobilen Händlerinnen zu, die ihre Waren am Straßenrand oder auf dem Gehweg feilbieten. Nach Ansicht der Behörden behindern sie nicht nur den Verkehr, sondern stören auch optisch das Erscheinungsbild moderner Städte [1, 2].

Modernisierung des Marktsystems

Der Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft brachte neue Formen räumlicher Organisation hervor, die sowohl mit dem soziodemografischen Wandel als auch mit wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen verknüpft sind. Während der marktbasierte Kleinhandel in den ersten Jahren der wirtschaftspolitischen Erneuerungspolitik relativ wenig staatliche Aufmerksamkeit erfuhr, verfolgt die vietnamesische Regierung mittlerweile ein ehrgeiziges Programm zum Ausbau des landesweiten Marktnetzwerks. Im Januar 2003 erließ sie eine umfangreiche Verordnung über die Entwicklung des Marktsystems in eine „zeitgemäße, zivilisierte Richtung“, gefolgt von zahlreichen Ministerialentscheidungen zur Klassifizierung, Verwaltung, Modernisierung und Privatisierung von Märkten.

Diese „von oben herab“ verordneten planungspolitischen Maßnahmen haben die sozialräumlichen Dimensionen des Kleinhandels tiefgreifend verändert. Im Zuge des Abrisses, der Verlegung und des Neubaus von Märkten kam es in den vergangenen Jahren an vielen Orten des Landes zu Protesten von Händlern, die um ihre Existenzgrundlage fürchteten. In der Grenzstadt Lao Cai erreichten sie nach zähem Ringen, dass die neuen Standgebühren etwas reduziert wurden. Trotzdem sind diese immer noch um ein Vielfaches höher als auf dem alten Markt. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich das Geschäft für die Standbetreiber in Zukunft überhaupt noch lohnt.

In der jüngeren Vergangenheit ist es für viele Händler bereits schwierig geworden, auf dem Markt zu bestehen. Vor allem im Grenzgebiet liegt es da nahe, die Transaktionskosten durch (kleinere und größere) Gesetzesverstöße zu reduzieren. Eine Händlerin drückt es wie folgt aus: „Wenn man heute ein ehrliches Geschäft führt, das heißt, wenn man keinen Schmuggel treibt oder Schlechtes tut, dann reicht es gerade für das Allernotwendigste.“ [8]

In Ninh Hiep ist von diesem Pessimismus bislang relativ wenig zu spüren. Im Gegenteil, hier bot der Bau von zwei zusätzlichen, privat finanzierten Markthallen dem Händler-Nachwuchs die Möglichkeit, eigene Verkaufsstände zu eröffnen (Abb. 3). Der Beitrag der geschäftstüchtigen Dorfbewohner zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region wird jedoch nicht unbedingt positiv bewertet. Vielmehr kritisieren Presseberichte die Textilhändler dafür, dass sie auf zu einfache – und überdies unehrliche – Weise reich wurden und ihr Geld in Luxusartikel statt in die Ausbildung ihrer Kinder investierten.

Vietnamesische Märkte als ethnologisches Forschungsfeld

In Vietnam, wie auch in anderen spät- oder postsozialistischen Staaten Eurasiens, hat die neue marktwirtschaftliche Orientierung zu komplexen Auseinandersetzungen und Kontroversen geführt. Im Brennpunkt stehen dabei die staatliche Regulierung von Handelstätigkeiten, die Kontrolle von Märkten und die Nutzung von öffentlichem Raum. Die multiplen Dynamiken marktsozialistischen Wachstums, die urbane und ländliche Entwicklung sowie staatliche Maßnahmen zur Durchsetzung eines „modernen“ oder „zivilisierten“ Lebensstils haben die wirtschaftlichen Chancen vietnamesischer Kleinhändler in unterschiedlicher Weise beeinflusst. Begriffe wie „modern“ und „zivilisiert“ weisen darauf hin, dass diesen Prozessen eine moralische Komponente innewohnt, denn es geht nicht zuletzt auch um die Frage, was im Handelsgeschehen als gut und richtig gelten soll.

Die vielfältigen Facetten des Kleinhandels im heutigen Vietnam standen im Fokus von einjährigen ethnografischen Feldstudien, die in verschiedenen Regionen des Landes durchgeführt wurden. Sie geben Aufschluss darüber, wie die komplexe Verwobenheit von sozialen Beziehungsnetzwerken, moralischen Werten und politischen Rahmenbedingungen das Leben vietnamesischer Kleinhändler bestimmt. Sie fragen auch nach den sich wandelnden Vorstellungen von „Selbst“ und „Person“ – nicht nur in Bezug auf wirtschaftliches Handeln, sondern auch in Bezug auf Geschlecht, Klassenzugehörigkeit und ethnische Identität. Vor allem aber zeigen sie, dass sich Märkte (im konkreten wie auch im abstrakten Sinn) auf uneinheitliche Weise konstituieren und transformieren. Dies geschieht maßgeblich im Zusammenspiel von globalen Prozessen, lokalen Visionen von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und alltäglichen Interaktionen zwischen Händlern, Lieferanten, Kunden und Amtsträgern.

Literaturhinweise

1.

Endres, K. W.

Downgraded by upgrading. Small-scale traders, urban transformation and spatial reconfiguration in post-reform Vietnam

Cambridge Anthropology 32 (2), 97–111 (2014)

2.

Barthelmes, L.

„Dort gibt es nichts zu sehen” – Shoppingmalls, Supermärkte und Stadtplanung in Hanoi
Südostasien 1, 8–10 (2012)
3.

Agnew, J.-C.

Worlds apart: The market and the theatre in Anglo-American thought, 1550–1750
Cambridge University Press, Cambridge (1988)
4.
Scott, J. C.
Seeing like a state: How certain schemes to improve the human condition have failed

Yale University Press, New Haven (1998)

5.

Hetherington, K.

The badlands of modernity: Heterotopia and social ordering
Routledge, London (1997)
6.

TenHoor, M.

Architecture and biopolitics at Les Halles

French Politics, Culture & Society 25 (2), 73–92 (2007)

7.

Leshkowich, A. M.

Essential trade: Vietnamese women in a changing marketplace
University of Hawai’i Press, Honolulu (2014)
8.
Endres, K. W.
Making law: Small-scale trade and corrupt exceptions at the Vietnam–China border

American Anthropologist 116 (3), 611–625 (2014)

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