Das UNESCO-Welterbe als globale Institution und lokale Wirklichkeit

Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Brumann, Christoph
Abteilungen
Abteilung „Resilienz und Transformation in Eurasien“, Forschungsgruppe „Die globale politische Ökonomie des Kulturerbes“
Zusammenfassung
Auch in einer erfolgreichen globalen Institution, die sich dem universalen Menschheitsinteresse verschrieben hat, zeigt sich die Bedeutung der Nationalstaaten und ihrer Bedürfnisse, die sich in den letzten Jahren vor allem in Form eines Nord-Süd-Konflikts äußern. Eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung untersucht die Entscheidungsabläufe der UNESCO-Welterbe-Institutionen und die lokalen Auswirkungen des Welterbetitels in den gefeierten historischen Städten Kyoto, Istanbul, Malakka und Xiʼan.

Im Herbst 2012 feierte die Welterbekonvention in Kyoto ein Jubiläum: Vor 40 Jahren wurde dieser Vertrag durch die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) angenommen, und inzwischen haben ihn 191 Staaten ratifiziert. Nie zuvor war der Welterbetitel bekannter und begehrter, nie zuvor hat er Touristenströme stärker gelenkt und prestigebewusste Nationalstaaten, Gemeinden und Politiker mehr beflügelt als heute. Allerdings war auch nie zuvor die Kritik an der Umsetzung der Konvention vernehmbarer. Höchste Zeit also, diese globale Institution ethnologisch näher zu betrachten. Da das Welterbe überwiegend Weltkulturerbe ist, bezieht es sich auf einen zentralen Begriff der Ethnologie. Vor diesem Hintergrund widmet sich die Forschungsgruppe „Die globale politische Ökonomie des Kulturerbes“ den Gremien, Abläufen und Konsequenzen des Welterbe-Systems.

Liste ohne Grenzen

Zur Untersuchung der Entscheidungsprozesse nehmen die Forscher unter anderem als Beobachter an den Treffen der Welterbe-Institutionen teil. Dazu gehören die jährlichen Sitzungen des Welterbekomitees, die an Orten wie Sevilla, Brasília oder St. Petersburg stattfinden. Zu diesen global events kommen über 1.000 Teilnehmer zusammen, die gespannt verfolgen, welche Entscheidungen zu den bestehenden 962 Welterbestätten fallen und welche Kandidaten neu aufgenommen werden. Das Komitee stützt sich auf die Expertise des Internationalen Rats für Denkmalpflege (ICOMOS) und der Weltnaturschutzunion (IUCN) sowie auf die administrativen Dienste des Welterbezentrums, das heißt des Konventionssekretariats im UNESCO-Hauptquartier in Paris. Seine Entscheidungen fällt es jedoch autonom.

Die Welterbeliste stand nicht immer im Vordergrund der Arbeit des Komitees. Den Anstoß für die Konvention lieferten die von der UNESCO koordinierten internationalen Rettungsaktionen für Abu Simbel in Ägypten und andere bedrohte Stätten in den 1960er-Jahren. Vor diesem Hintergrund postulierte die Konvention ein gemeinsames Menschheitserbe mit international geteilten Rechten und Pflichten. Dies war ein völkerrechtliches Novum und brachte auf innovative Weise Kultur- und Naturstätten unter ein institutionelles Dach. Die Konvention ist inzwischen das wichtigste Forum der globalen Verbreitung des Denkmalschutzes, und auch der Naturschutz kennt auf internationaler Ebene kaum wirksamere Mechanismen. Die Nationalstaaten unterwerfen sich der Konvention, in der Folge jedoch liegt es an ihnen, die Komiteebeschlüsse umzusetzen. Wo eine kritische Öffentlichkeit dies unterstützt, hat sich der Welterbetitel – etwa bei der Verhinderung von Hochhäusern in Wien, Köln oder St. Petersburg, beim Schutz der Serengeti oder des Great Barrier Reef – als nicht zu unterschätzender Faktor erwiesen. In anderen Fällen zeigen sich Regierungen jedoch unempfindlicher, und dann sind den Interventionsmöglichkeiten der Welterbe-Institutionen – wie auch anderer Gremien des UN-Systems – enge Grenzen gesetzt.

Gerade wegen seiner großen öffentlichen Beachtung hat sich das Welterbe auf interessante Weise gewandelt. Zwar wurden von Anfang an etwa afrikanische Stätten durchaus berücksichtigt, doch wurden schon bald kritische Stimmen laut, die einen eurozentrischen Blickwinkel und die Überrepräsentation von Schlössern, Kathedralen und Altstädten beklagten. Die 1994 angenommene „Global Strategy“ hat die Perspektive daher erweitert. Holzhäuser, Hüttenwerke, die Bauhaus-Moderne oder Bergbahnen sind jetzt ebenfalls auf der Liste willkommen. Die neue Kategorie der Kulturlandschaften berücksichtigt Mensch-Umwelt-Interaktionen vom Weinbaugebiet bis zum heiligen Hain. Auch der Anteil der Stätten, die an Gräueltaten, Sklaverei, Zwangsmigration oder gezielte Zerstörung erinnern, wurde ausgebaut. 2003 wurde schließlich eine weitere, unabhängig agierende UNESCO-Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes angenommen. Sie schützt vergänglichere Kulturformen wie Feste, Theater- und Handwerksformen und soll damit nicht zuletzt den Ländern des Südens eine alternative Bühne verschaffen.

Grenzen der Geduld

Nach wie vor befindet sich jedoch fast die Hälfte der Welterbestätten in Europa. Während andere Länder Mühe haben, überhaupt einmal eine Nominierung vorzubringen, reichen die großen westeuropäischen Länder, aber auch China, Japan, Mexiko, Iran oder Australien oft gleich zwei Bewerbungen pro Jahr ein. Sie sind am ehesten in der Lage, die – nicht zuletzt aufgrund früherer Kritik – steigenden Anforderungen der Beraterorganisationen an eine Welterbenominierung zu erfüllen. Alle Versuche, diese Länder mittels Quoten oder Zurückhaltungsappellen zu bremsen, haben nur bescheidenen Erfolg – selbst in der augenblicklichen Finanzkrise der UNESCO, die seit der Aufnahme Palästinas 2011 auf die US-Beitragszahlungen verzichten muss. Zu sehr locken die Vorzüge des Welterbetitels, und statt aus unabhängigen Personen besteht das Komitee aus 21 gewählten Vertragsstaaten, die sich immer häufiger durch Diplomaten und nicht die eigentlich erwünschten Experten vertreten lassen. Selbst wenn diese nicht nationale Eigeninteressen verfolgen, sind ihnen die Pflege bilateraler Beziehungen oder die Verhinderung offenen Streits (etwa zwischen Israel und arabischen Staaten) oft wichtiger als die eigentlichen Konventionszwecke.

Diese Politisierung spitzt sich gegenwärtig zu. Die Staaten, die selbst nicht im Komitee vertreten sind, können bei den amtierenden Staaten – gegebenenfalls mit Gegenleistungen – um Unterstützung nachsuchen. Dieses Lobbying ist das kaum kaschierte Alltagsgeschäft der an den Sitz der UNESCO in Paris entsandten UNESCO-Botschafter der Staaten, doch schalten sich durchaus auch Außenminister und Regierungschefs ein. Bis 2010 hatten die Empfehlungen der Beraterorganisationen noch eine gewisse Leitfunktion. Seitdem werden sie jedoch in ungekannter Weise übergangen, sowohl bei der Aufnahme eigentlich negativ begutachteter Kandidaten in die Liste als auch bei der Abschwächung von Auflagen für bereits anerkannte Stätten. Die Streichung einer Welterbestätte gegen den Willen des betroffenen Staates – wie etwa des Dresdener Elbtals 2009 – wäre inzwischen kaum mehr durchsetzbar. Kritik an dieser Entwicklung ist immer deutlicher vernehmbar, auch vonseiten der Staaten, die nicht im Komitee vertreten sind.

Die Wende erfolgte zu einem Zeitpunkt, als im Komitee eine besonders große Anzahl außereuropäischer Führungsstaaten vertreten war, die sich in dem Gefühl einig sind, bislang nicht gebührend berücksichtigt worden zu sein. Dem stemmten sich aus dem westeuropäisch-nordamerikanischen Zentrum des globalen Systems nur kleinere Länder entgegen, die selbst keine Nominierungen eingebracht hatten, aber in der Vergangenheit schon gut mit Welterbestätten bedacht worden sind. Die größeren westlichen Staaten reichen fast immer eigene Welterbe-Nominierungen ein, und sich unter solchen Bedingungen den Wünschen der Komiteekollegen zu verschließen, könnte Vergeltung heraufbeschwören und wird daher lieber vermieden. Dass die Beraterorganisationen mit überwiegend euroamerikanischem Personal auftreten, hilft nur wenig, diese nicht offen thematisierte, aber unübersehbare Nord-Süd-Konfrontation zu entschärfen. Die Staaten des Südens verlieren die Geduld mit einem System, das – in ihren Augen – nur Forderungen stellt, aber wenig Unterstützung bietet, in ihren Augen legitime Entwicklungswünsche behindert und den Welterbetitel immer höher hängt.

Deutlich scheinen hier Parallelen zur globalen Klimadiplomatie auf. Diese Entwicklung ist der Preis für den Erfolg des Welterbes, das immer mehr zum Objekt der Begierde wird. Es gibt Teilnehmer, denen jegliche Verlängerung der Welterbeliste willkommen ist, da sie den legitimen Einmischungsbereich des Komitees ausdehnt. Solche Einmischungen werden jedoch immer hypothetischer, wenn gleichzeitig die Ressourcen auf einem Niveau stagnieren, mit dem schon der Alltagsbetrieb der Welterbe-Institutionen kaum mehr aufrechtzuerhalten ist. Hier wird deutlich, dass der im Zeitalter der multinationalen Konzerne, der Netzwerke und der transnationalen Organisationen in sozialwissenschaftlichen Globalisierungstheorien häufig angestimmte Schwanengesang auf den Nationalstaat verfrüht ist. Selten agieren Nationalstaaten dominierender als auf den Welterbe-Sitzungen.

Urbanes Welterbe in ethnografischer Perspektive

In Ergänzung dieser Organisations- und Entscheidungsanalyse untersucht die Forschungsgruppe  in einjährigen ethnografischen Feldforschungen die Folgen des Welterbetitels und des Kulturerbes im urbanen Kontext. Dabei stehen imperiale Zentren im Fokus, die inzwischen ihre Hauptstadtfunktion verloren haben, aber als die historischen Hochburgen ihres Landes gelten – Kyoto, Istanbul, Malakka und Xi'an. In jeder dieser Städte umfasst das Kulturerbe Monumentales (wie die Hagia Sophia oder die Terrakotta-Armee) und Alltägliches (Wohnhäuser oder Basare). In jeder von ihnen findet man es räumlich verstreut, so dass die an all diesen Orten rasante Entwicklung des urbanen Raumes einen Weg zwischen der touristisch erwünschten Erhaltung und dem Bedarf an Neubauten – wie etwa der vom Welterbekomitee monierten Brücke über das Goldene Horn – finden muss. Ziel der Untersuchungen ist eine umfassende Analyse der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Prozesse, die sich um städtisches Welterbe entspinnen. Neben den Institutionen, Experten und Entscheidungsträgern geht es dabei gerade auch um die Perspektive der gewöhnlichen Stadtbewohner. Über bereits vorliegende ethnologische Lokalstudien zum Welterbe konnte auf der 2012 veranstalteten Tagung „World Heritage on the Ground: Ethnographic Perspectives“ eine erste Bilanz gezogen werden. Insbesondere die Verbindung der globalen und der lokalen Ebene verspricht einen entscheidenden Erkenntniszuwachs für die derzeit laufenden Forschungen.

Literaturhinweise

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