Kulturlandschaft Sibirien

Forschungsbericht (importiert) 2004 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Habeck, Joachim Otto
Abteilungen
Sibirienzentrum (Prof. Dr. Christopher Hann)
MPI für ethnologische Forschung, Halle/Saale
Zusammenfassung
Dieser Forschungsbericht skizziert ein Projekt über die verschiedenen Bedeutungen und Dimensionen des Begriffes „Kultur“ am Beispiel Sibiriens, einer Region, die im Ruf steht, wenig oder gar nicht „kultiviert“ zu sein und dennoch einer erstaunlich großen Zahl verschiedener „Kulturen“ ein Zuhause bietet.

Endlose Weiten, klirrende Kälte, gewaltige Mückenschwärme, Verbannung und Arbeitslager, aber auch Erschließung von Rohstoffen, Pipelines und Eisenbahnen prägen das Bild von Sibirien, das sich in den letzten Jahrzehnten in den Köpfen vieler Menschen in Deutschland – Ost und West – festgesetzt hat. Gleichzeitig wird der Begriff Sibirien auch mit exotischen Kulturen in Tundra und Taiga in Verbindung gebracht. Seit dem Ende der Sowjetunion haben viele Abenteuerlustige von der Möglichkeit, diesen Teil Russlands „selbstorganisiert“ zu bereisen, Gebrauch gemacht, darunter eine in den letzten Jahren schnell gewachsene Zahl von Journalisten. Die Vorstellungen, die sich mit Sibirien verbinden, sind gerade in der jüngsten Zeit einem starken Wandel unterworfen, was unter anderem auf die eindringliche Bildersprache verschiedener Fernsehbeiträge zurückzuführen ist. Sibirien ist – zumindest gedanklich – näher gerückt, und neue Eindrücke sowie ein neues Problembewusstsein ergeben ein vielschichtiges Bild. In den Vordergrund getreten sind vor allem die Belange der einheimischen (indigenen) Bevölkerung, deren traditionelle Formen der Landnutzung durch Raubbau an der natürlichen Umwelt bedroht sind. So wird häufig betont, dass Armut und Alkoholismus das Überleben einheimischer Kulturen gefährden, und dass umweltschädigende Praktiken des Rohstoffabbaus die biologische Vielfalt bedrohen.

Derlei verschiedenartige Repräsentationen sibirischer Lebenswelten sind Teil des Forschungsgegenstandes der Ethnologie, welche nicht nur verschiedene ethnische Gruppen beschreibt, sondern auch untersucht, auf welcher Grundlage diese Beschreibungen zustande kommen und wie Eigen- und Fremdbeschreibungen aufeinander einwirken. Zum laufenden Arbeitsprogramm des Sibirienzentrums des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung gehört neben einer Reihe von anderen Themen die Frage nach der Darstellung Sibiriens in den Medien und im gesellschaftlichen Diskurs. Mehrere Projekte analysieren, wie in diesen Beschreibungen die Begriffe Kultur und Natur gedeutet werden. Beide Begriffe haben Einfluss auf das Selbstverständnis einer Gesellschaft und besitzen aufgrund ihrer normativen Bedeutung auch politische Relevanz. Im Folgenden wird versucht, die Bedeutungen des Begriffs „Kultur“ mit Bezug auf Sibirien herauszuarbeiten.

Die imaginäre Peripherie

Das Bild, welches man sich in Westeuropa von Sibirien macht, ist demjenigen, welches man sich im europäischen Teil Russlands macht, nicht unähnlich. In beiden Fällen steht Sibirien seit mehr als zwei Jahrhunderten für Peripherie und Rückständigkeit, aber zugleich auch für Entwicklungspotenzial und Reichtum an natürlichen Rohstoffen. In den russischen Medien und der Literatur wird Sibirien darüber hinaus seit langem mit Aufbruch und Erneuerung verbunden: Die große Bedeutung der Ressourcen für die Zukunft Russlands im Ganzen verleiht Sibirien etwas Jugendliches [1].

Sibirien gilt also als eine Region, die erschlossen und angeeignet werden muss. Dieses Verständnis von Aneignung (im Russischen osvoenie) impliziert große Anstrengungen und Opferbereitschaft, um die widrigen naturräumlichen Voraussetzungen und die vielfach unterstellte Primitivität dieses Landstrichs zu überwinden. Sibirien erscheint den meisten Menschen in Russland – ähnlich wie in Deutschland – als eine Region, die vergleichsweise unkultiviert ist. Manche bezweifeln gar, dass es in Sibirien überhaupt so etwas wie Kultur gibt.

Gibt es Kultur in Sibirien? Aus Sicht der Ethnologie und anderer Sozial- und Geisteswissenschaften ist diese Frage nahezu unzulässig, allein schon auf Grund der Vielschichtigkeit des Kulturbegriffes in diesen Wissenschaften. Die Frage selbst bezieht sich implizit auf verschiedene Bedeutungen und Dimensionen von „Kultur“. Von diesen sollen nun einige näher analysiert werden: zum einen „Kulturen“ im Plural als etwas, was ethnischen Gruppen zugesprochen wird; zum anderen „Kultur“ im Singular als etwas, das einen gewissen zivilisatorischen Status ausdrückt; und zum dritten „Kultur“ zwischen Singular und Plural: die Diversität von Alltagskultur(en) und Subkultur(en), die offenbar einen Kontrast sowohl zu „Kulturen“ im ersten Sinne als auch zu „Kultur“ im zweiten Sinne darstellt.

Drei Aspekte des Begriffs Kultur

„Kulturen“ im Plural bezeichnet etwas, was den einzelnen Völkern Sibiriens wie beispielsweise den Nenzen, Ewenken und Tschuktschen zueigen ist. Es wurde schon angesprochen, dass diese Kulturen als gefährdet betrachtet werden. Der Diskurs über „Kulturverlust“ basiert auf der Annahme, dass das, was verloren geht, nicht durch etwas anderes ersetzt werden kann; es kann aber bewahrt und in manchen Fällen sogar wiederhergestellt werden. Neben den indigenen Sprachen sind es vor allem die religiösen Vorstellungen und Riten, aber auch die traditionellen Formen der Landnutzung der einheimischen Völker, die mit diesem Kulturbegriff verbunden werden. Veränderungen in diesen Bereichen werden üblicherweise als Anpassung an einen russischen oder gar globalen kulturellen Mainstream interpretiert, wobei die traditionelle Lebensweise zurückgedrängt wird. Der Wert der Vielfalt der indigenen Kulturen liegt eben gerade darin, dass sie das Traditionelle bewahrt haben. Problematisch an dieser Sichtweise ist jedoch die implizite Annahme, dass indigene Kulturen in der gegenwärtigen, modernen Welt eigentlich keinen Platz haben. Aus diesem Grunde wirken die indigenen Kulturen auf viele Betrachter auch in einer merkwürdigen Weise zeitlich deplaziert, als ob sie in einer Vergangenheit existierten, die doch im Jetzt ist [2]. Wenn in Filmen, Büchern und Zeitschriften betont wird, dass die einheimische Bevölkerung „seit Tausenden von Jahren“ diesen oder jenen Tätigkeiten nachgeht, dann schwingt darin auch immer mit, dass sie noch nicht in der Zeit angekommen sind, in welcher „wir“ leben.

Besonders deutlich – wenngleich nicht nur dort – äußert sich dies in der marxistischen Geschichtsauffassung, die auf sozial-evolutionäre Stufenmodelle der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeht. Diese um 1880 von Morgan und Engels vertretene Auffassung wurde von den führenden Sozialisten übernommen und entwickelte sich in der Sowjetunion zur dominierenden Theorie, mittels welcher die Entwicklung der verschiedenen Völker zu erklären war. In der Folge war eine ganze Generation sowjetischer Ethnologen bemüht, die historische Entwicklungsstufe der jeweiligen ethnischen Gruppe festzustellen [3]. Gemäß diesem Stufenmodell folgt auf die Urgesellschaft das Sklavenhaltertum, anschließend der Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus. Die große Aufgabe sowjetischer Politik in Sibirien bestand darin, eine Vielzahl von ethnischen Gruppen, von denen angenommen wurde, sie befänden sich auf der Entwicklungsstufe der Urgesellschaft, in die Gegenwart des Sozialismus zu katapultieren [4]. Hierbei hatte ein Instrument besonderen Stellenwert: „Kultur“ in seiner zweiten Bedeutung, also im Sinne von Zivilisation.

Ähnlich wie Modernisierungsprojekte andernorts bestand das sowjetische Projekt in Sibirien nicht nur in der Aneignung der natürlichen Ressourcen mit technischen Mitteln (osvoenie), sondern auch in der Vermittlung von Kultur und Kultiviertheit (kul’turnost’) bei jenen Völkern, die vermeintlich noch nicht den Entwicklungsstand der russischen Gesellschaft erreicht hatten. Aspekte dieses Projektes waren die Verschriftlichung indigener Sprachen, die Alphabetisierung, die Ausbildung einer Bildungsschicht ebenso wie die Propagierung von Hygiene, die Verbesserung der Wohnbedingungen und der örtlichen Infrastruktur sowie die Sesshaftmachung nomadischer Gruppen [5]. Der Anspruch des sowjetischen Staates, das kulturelle Niveau seiner Menschen zu heben, war allgegenwärtig [6] und wurde gerade in ländlichen Gebieten mit bestimmten materiellen Objekten und infrastrukturellen Einrichtungen assoziiert: Tischdecken, fließendes Wasser, Bürgersteige, das Vorhandensein von Schulen, Bibliotheken und Kulturhäusern (doma kul’tury). Letztere gibt es in nahezu allen städtischen und in vielen ländlichen Siedlungen Russlands, im europäischen Teil ebenso wie in Sibirien. Ihre Existenz bezeugt sowohl das Bemühen, das kulturelle Niveau zu halten und zu heben, als auch die Auffassung, dass „Kultur“ einen formalen Charakter hat und eine Art Kanon von Dingen bildet, die gut sind und schön, und vor allem erstrebenswert.

Es ist in diesem Sinne von beaux arts und gutem Geschmack, dass Dichter wie Puschkin, Schriftsteller wie Dostojewski und Musiker wie Tschaikowski als beispielhaft für das kulturelle Schaffen in Russland gesehen werden. Mehr noch, es gibt ein stilles gesellschaftliches Einverständnis, dass ihre Werke jedem Bewohner des Landes bekannt sein sollten, denn eben diese Kenntnis schafft eine wesentliche Voraussetzung für ein kultiviertes Leben.

Von diesem Verständnis heben sich die Begriffe der Alltagskultur und der Subkultur, die weiter oben als dritter Aspekt erwähnt wurden, in bemerkenswerter Weise ab. Aus ethnologischer Sicht handelt es sich wiederum um komplexe, schwer fassbare Termini. Für viele Menschen ist „Alltagskultur“ (im Gegensatz zu „Kultur“ in den beiden anderen Bedeutungen) kein populärer Begriff, da der Alltag als uninteressant oder unschön angesehen wird [6]: Kultur ist nach dieser Lesart das Nicht-Alltägliche. Wenn Alltagskultur existiert, so ist sie nicht explizit. Es ist der informelle, beiläufige Charakter der Alltagskultur, der sie vom kanonischen Kulturbegriff des Guten, Schönen und Erstrebenswerten unterscheidet. Ähnlich verhält es sich mit der „Subkultur“: an der Vorsilbe lässt sich bereits erkennen, dass sie untergründig ist. Subkulturen sind flüchtig und teilweise unsichtbar.

In den Großstädten ebenso wie in entlegenen Siedlungen Sibiriens lässt sich nicht nur die Existenz von Opernhäusern, Bibliotheken und Kulturhäusern, sondern auch das Vorhandensein von „Subkultur“ beschreiben: ethnologische Studien beschäftigen sich zum Beispiel mit der Produktion von Popmusik in Jakutien, mit Tolkienisten und Rollenspiel-Fans in und um Novosibirsk und mit dem Lebensalltag von Internatskindern im Fernen Osten. Erörtert wurden diese und andere Themen während der Konferenz „Everything is still before you“: being young in Siberia today am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung im November 2003 [7]. Trotz der auf Autorität und Patriotismus abzielenden politischen Tendenzen gibt es eine Vielfalt „neuer“ Lebensentwürfe in Russland, die dem konventionellen Bild, welches von Sibirien existiert, nicht entsprechen. Hier gilt es in der weiteren Forschung anzusetzen.

Viele Bereiche gerade der „Subkultur“ zeigen, dass die Menschen in Sibirien sich als Teil einer globalisierten Welt verstehen. Subkulturen und indigene Kulturen stehen damit ebenfalls in einem scheinbaren Widerspruch. Die Flüchtigkeit der Subkulturen und die Ausrichtung auf schnelllebige Moden passen offenbar nicht zu dem Verständnis indigener Kulturen als traditionelle Systeme, deren Jahrtausende währender Bestand gerade durch Globalisierungsprozesse in Frage gestellt wird. Aber in der Praxis verbinden sie sich auf mannigfaltige und teils unerwartete Weise: „ethnische“ Elemente finden Eingang in Musikrichtungen, die im Westen populär sind, schamanische Séancen inspirieren New-Age-Anhänger, und sportliche Wettkämpfe in verschiedenen Regionen Sibiriens belegen sowohl die Retraditionalisierung indigener Sportarten als auch das wachsende Interesse an anderen Disziplinen. Eine saubere Abgrenzung zwischen dem Traditionellen und dem Modernen, zwischen indigener und globaler Kultur ist nicht möglich.

Die diskursive Peripherie

Rückgreifend auf die Ausgangsfrage „Gibt es Kultur in Sibirien?“ lässt sich festhalten, dass sich Kultur in vielfältigen Formen manifestiert, und dass die hier herausgearbeiteten Kulturbegriffe, nämlich indigene Kulturen, Kultur als Merkmal eines zivilisatorischen Status und Subkultur(en) in der Praxis untrennbar miteinander verflochten sind, wobei sie aber diskursiv miteinander in Konkurrenz stehen. Manche Auffassungen darüber, was Kultur ist, dominieren andere. Die Aussage, dass Sibirien eine kulturlose oder unkultivierte Region sei, lässt nur einen bestimmten, sehr eng gefassten Kulturbegriff gelten. Hierdurch wird Sibirien zur Peripherie herabgestuft. Es gibt jedoch auch historische und politische Konzeptionen, die das Zentrum-Peripherie-Verhältnis umdrehen und Sibirien in den Mittelpunkt rücken. Beispielsweise nimmt Sibirien in der politischen Debatte über Russlands Rolle in Eurasien eine zentrale Stellung ein. Die konkurrierenden Eigen- und Fremdbeschreibungen und der ambivalente Gebrauch des Kulturbegriffes haben besondere politische Tragweite, wie unter anderem Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ veranschaulicht. Daher werden diese Themen auch in den folgenden Jahren für die ethnologische Forschung von zentraler Bedeutung sein.

Originalveröffentlichungen

1.
D. Anderson:
„Everything is still before you“: the irony of youth discourse in Siberia.
Sibirica 4(1), 14–30 (2004).
2.
J.O. Habeck:
What it means to be a herdsman: the practice and image of reindeer husbandry among the Komi of Northern Russia.
LIT-Verlag, Münster 2005.
3.
U. Johansen:
Die Ethnologen und die Ideologien: das Beispiel der estnischen Ethnographen der Sowjetzeit.
Zeitschrift für Ethnologie 121, 181–202 (1996).
4.
B. Grant:
In the Soviet House of Culture: a century of perestroikas.
Princeton University Press, Princeton 1995.
5.
Y. Slezkine:
Arctic mirrors: Russia and the small peoples of the North.
Cornell University Press. Ithaka 1994.
6.
S. Boym:
Common places: mythologies of everyday life in Russia.
Harvard University Press, Cambridge MA 1994.
7.
J.O. Habeck:
Introduction: growing research on youth in Siberia.
Sibirica 4(1), 2–13 (2004).
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