Rechtliche Verfahren in neuen staatlichen Konfigurationen: Integration von Minderheiten in Indien und China
Forschungsbericht (importiert) 2004 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung
Im asiatischen Raum bilden Völker tibetischer Herkunft eine Minderheit. Das gilt auch für China und Indien, die beiden wichtigsten Staaten, in denen Tibeter heute leben (Abb. 1). Beide Staaten verfolgen aufgrund ihrer spezifischen Systeme politischer Kontrolle und Verwaltung sehr unterschiedliche Ansätze im Umgang mit ihren Minderheiten. Diese Systeme haben wiederum die Erfahrungen, die die tibetische Bevölkerung mit staatlicher Kontrolle gemacht hat, entscheidend beeinflusst. Die indische Regierung verfolgt gegenüber den marginalen Regionen eine auf wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtete Politik. Sie hat eine Art Gemeindeverwaltung (panchayat) eingeführt, und die staatliche Verwaltung übt in der Regel nur eine leichte bürokratische Kontrolle über entlegene Dörfer aus. In China folgte dem Versuch des maoistischen Regimes, den tibetischen Buddhismus zu eliminieren und kollektive Formen der Landwirtschaft und der Viehzucht einzuführen, eine Periode der Liberalisierung. Dennoch sind Regierungsvertreter nach wie vor damit beauftragt, der einheimischen Bevölkerung bestimmte politische Linien aufzuzwingen, einschließlich der Parteimitgliedschaft der führenden lokalen Politiker. Darüber hinaus verfolgt China ein ehrgeiziges Programm zur wirtschaftlichen Entwicklung und Modernisierung.
Ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung untersucht die gegensätzlichen Erfahrungen tibetischer Gruppen in Indien und China mit staatlicher Kontrolle. In zwei ausgewählten Gemeinschaften werden rechtliche Verfahren zur Regulierung von Konflikten und der Aufrechterhaltung der Ordnung untersucht. Lokale Praktiken werden sowohl aus historischer als auch aus regionaler Perspektive analysiert, um die Bedeutung kultureller Muster und religiöser Einflüsse herauszuarbeiten. Sie werden im Kontext der Beziehungen zwischen lokalen Gruppen und dem Staat sowie staatlicher Versuche, Recht und Ordnung in dieser Region aufrechtzuerhalten, betrachtet.
Ladakh
Ladakh zählt zu den größten Regionen Indiens mit „tibetischer“ Bevölkerung (Abb. 2). Die Bevölkerung ist außergewöhnlich bemüht, Auseinandersetzungen und Streitigkeiten innerhalb der Grenzen des Dorfes zu halten und zu lösen. Rechtliche Verfahren und Autorität werden hier als Angelegenheit der dörflichen Organisation angesehen. Ordnung wird intern durch Vereinbarungen und Schlichtungsprozesse hergestellt und wird somit nicht durch eine externe, höhere Autorität aufgezwungen. Die Vertreter der Staatsgewalt werden auf Abstand zu diesen Verfahren gehalten, so dass die Dorfbewohner eine beträchtliche Autonomie gegenüber staatlichen Kontrollmechanismen beibehalten können. Dennoch wird das politische Zentrum als Quelle materiellen Nutzens angesehen. Die Einstellung der Dorfbewohner gegenüber Repräsentanten des Staates verbindet Respekt mit Distanz. Die dörfliche Rechtsfindung und die ihr zugrunde liegenden Ideen werden innerhalb der städtischen Zentren angepasst und erweitert, um neue Formen der Konfliktbewältigung zu entwickeln. Diese Verfahren stellen sogar in Städten, die wesentlich stärker durch den Einfluss der Moderne und westlicher Vorstellungen von Gerechtigkeit und Recht dominiert sind, eine Alternative zu staatlichen Gerichten dar. [1]
Amdo
Die Hirtennomaden von Amdo im nordöstlichen Tibet hüten Yaks und Schafe auf Weideflächen, die jetzt Teil der chinesischen Provinzen Qinghai und Gansu sind (Abb. 3). Wie die Ladakhis betrachten sich auch die Amdowa als tibetisch. Beide Volksgruppen sind Anhänger des tibetischen Buddhismus, und es lassen sich viele linguistische und kulturelle Ähnlichkeiten feststellen. Die Religion ist somit ein wichtiges verbindendes Merkmal. Jedoch hat die Untersuchung gezeigt, dass die Prinzipien des Buddhismus in beiden Fällen rechtliche Praktiken unerwartet gering tangieren.
Mehrere Monate Feldforschung bei einem Stamm von Hirtennomaden zeigten, dass die Beziehung zwischen den Stammesgruppen durch eine lange Geschichte von Fehden- und Kriegsführung gekennzeichnet ist. Die Stammesgruppen bestehen aus Untergruppierungen (segmentary structures), die sich im Falle eines Konfliktes verbinden oder teilen. Komplexe Vermittlungsverfahren werden von hochrangigen Persönlichkeiten durchgeführt, einschließlich der ranghöchsten buddhistischen Lamas. Die chinesische Besetzung von 1958 setzte diesen Verfahren ein Ende, aber die Reformen, die in den frühen 1980er-Jahren in China durchgeführt wurden, erlaubten es den Nomaden, zu den ehemaligen Formen der Hirten- und Stammesorganisation zurückzukehren. In den Steppenregionen wurden Fehdepraktiken wieder aufgenommen. Die Autorität der alten, erblichen Herrscherfamilien wurde jedoch ebenso geschwächt wie die politische Autorität der Klöster. Die Stämme werden heute von Räten lokal gewählter Dorfoberhäupter regiert. Diese werden jedoch nur eingeschränkt von den chinesischen Behörden anerkannt, die darauf bestehen, dass die Stämme von einigen wenigen ausgewählten Führern vertreten werden, die auch Parteimitglieder werden müssen. Dennoch werden die Lamas von den Nomaden im Falle ernsthafter Konflikte noch immer als die letzte Instanz rechtlicher Autorität angesehen.
Wie die Ladakhis verfügen die Amdowa über deutlich ausgeprägte eigene Ordnungskonzepte, die sich drastisch von den Prinzipien des staatlichen chinesischen Rechtssystems unterscheiden. Letztere bauen auf der Idee auf, dass zivile Beziehungen gleichermaßen den Staatsinteressen und dem Gemeinwohl dienen müssen. Für die Nomaden hingegen sind Rache und Gruppenloyalität die operativen Konzepte, die die Mitglieder eines Stammes dazu verpflichten, sich gegen andere Stämme zu verbünden. Die Betonung liegt auf einer direkten und individuellen Reaktion auf Aggression, wobei soziale Normen Gewalt innerhalb lokaler Gruppen scharf einschränken. Einmal initiiert, kann eine Fehde nur durch eine korrekt durchgeführte Vermittlung beigelegt werden, die die Zahlung von Blutgeld einschließt. Die staatlichen Verwaltungsbeamten mussten anerkennen, dass dies die einzigen Verfahren sind, die die gewalttätigen Konflikte unter den Nomaden lösen können. So wenden sie sich an örtliche Vermittler und buddhistische Lamas, um in problematischen Fällen deren Unterstützung zu erhalten. Im Gegensatz zu den Ladakhi, die erfolgreich alle Regierungsbeamten von ihren Konfliktlösungsverfahren fernhalten, verlassen sich die Amdo-Nomaden je nach Situation auf die Macht der Polizei oder anderer staatlicher Autoritäten, um einen Ausbruch von Gewalt zu verhindern und über strittige Grenzfälle zu entscheiden.
Den meisten Aspekten der Kontrolle durch den Staat stehen die Amdowa mit Abneigung gegenüber. Ihre komplexen Muster der Vermittlung und Austragung von Fehden verlangen von ihnen jedoch gelegentlich, sich an externe Instanzen rechtlicher Autorität zu wenden. In Abwesenheit ihrer ehemals erblichen Herrscher werden Staatsvertreter von ihnen zumindest in Einzelfällen als brauchbare rechtliche Entscheidungsmacht erachtet.
Legitimität und Kontrolle
In der Reaktion der beiden tibetischen Gruppen auf staatliche Kontrolle spiegeln sich sowohl ihre eigenen Vorstellungen von Ordnung wider – einschließlich Ideen darüber, was ein Konflikt ist und wie dieser geregelt und kontrolliert werden sollte – als auch die rechtlichen und sozialen Ordnungen, die von der jeweiligen Regierung auferlegt wurden. Insbesondere im Fall von Amdo zeigt sich, dass die rechtliche Legitimität des Staates weitgehend abgelehnt, jedoch unter bestimmten Umständen paradoxerweise anerkannt werden kann.
Weltweit müssen Regierungen in den Augen ihres Volkes ein gewisses Maß an Legitimität erlangen, wenn ihre Regierungssysteme langfristig stabil bleiben sollen. Die kontrastierenden Beispiele aus Ladakh und Amdo geben einen Hinweis darauf, dass politische Legitimität nicht zwangsläufig ausreicht, um rechtliche Autorität zu erlangen und vice versa. Die Dorfbewohner in Ladakh nehmen die Regierung als weitgehend wohlwollend wahr, als eine Quelle von materiellem Nutzen, von Frieden und Stabilität für die gesamte Region. Dennoch lehnen sie die rechtliche Autorität, die der Staat ihnen anbietet, ab. Die Amdo-Nomaden hingegen betrachten die chinesische Regierung als Fremdregierung und lehnen deren Versuch der Einflussnahme ab. Dies scheint darin begründet, dass die Erinnerung an die religiöse Unterdrückung während der Kulturrevolution noch immer gegenwärtig ist, aber auch darin, dass sie sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht sind. Deshalb sind sie auch ständig bemüht, zentralisierte Versuche der sozialen Kontrolle abzuwehren. Dennoch sind es die Amdowa, die die von ihren Regierungsvertretern angebotene rechtliche Autorität in besonderen Fällen bereitwillig annehmen.
Diese Forschungsbefunde gewinnen insbesondere vor dem Hintergrund der weltweiten Versuche, neue Rechtsregime innerhalb sich verändernder staatlicher Konfigurationen zu errichten, an breiter sozialer Bedeutung. Die Studie des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung belegt nicht nur deutlich, dass lokale Reaktionen auf Rechtsregime unterschiedliche Ideen von sozialer Kontrolle und rechtlicher Ordnung seitens der lokalen Gemeinschaften widerspiegeln können, sondern auch, dass diese selbst innerhalb kulturell ähnlicher Gruppen variieren können.
Für die Zukunft ist beabsichtigt, die vergleichenden Aspekte dieser Untersuchung auf die Regionen Zentral- und Innerasiens einschließlich Xinjiang, der Mongolei und des südlichen Sibiriens auszudehnen. Dies sind Gebiete, zu denen die Bevölkerung Tibets, besonders die der östlichen Weideländer, traditionell Verbindungen hat. Somit können die Beziehungen zwischen Nomaden und dem Staat in einer vergleichenden Perspektive analysiert und unterschiedliche Erfahrungen mit den postsozialistischen und postreformerischen Perioden in Regionen des sowjetischen und chinesischen Einflussbereiches gegenübergestellt werden.