Konnektivität in Bewegung: Der Indische Ozean als maritime Kontakt- und Austauschzone

Forschungsbericht (importiert) 2016 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Schnepel, Burkhard
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale)
Zusammenfassung
Der Indische Ozean ist mit 69 Millionen Quadratkilometern der drittgrößte Ozean der Welt. Er verbindet Afrika, Westasien, den Indischen Subkontinent und die malaiische Inselwelt; schon früh führte er zudem Seefahrer über das Südchinesische Meer bis nach China. Seit gut 5.000 Jahren wird der Indik, zunächst in Teilgebieten, befahren. War der Monsun-Code (südwestliche Winde im Sommer, nordöstliche im Winter) um die Zeitenwende erst einmal entziffert, konnte der Ozean schon im Zeitalter der Segelschifffahrt vollständig durchfahren werden.

„Indian Ocean Studies“ in Halle

Nach einem gewissen Bedeutungsverlust im 20. Jahrhundert hat der Indische Ozean gegenwärtig wieder geopolitisch und für den Welthandel eine herausragende Stellung inne. Obwohl sich die Anrainerstaaten des Indischen Ozeans und seine Inselstaaten in kulturellen, sozialen, religiösen, sprachlichen, wirtschaftlichen und politischen Dingen stark unterscheiden, gibt es gute Gründe, den Ozean auch als Einheit zu betrachten. Daher ist in den letzten Jahrzehnten neben vielen Einzelstudien auch die Zahl der Standardwerke, die sich der Aufgabe widmen, den Ozean als ein raumzeitliches Ganzes zu verstehen, stetig gewachsen [1, 2]. In Deutschland sind „Indian Ocean Studies“ allerdings institutionell kaum etabliert. Zwar gibt es zahlreiche Professuren, ja sogar Institute, die sich mit Teilregionen der Welt des Indischen Ozeans, etwa mit Ostafrika oder Südasien, befassen. Aber der Indische Ozean als eine der wichtigsten transregionalen Kontakt- und Austauschzonen in der Geschichte der Menschheit fällt gewissermaßen zwischen die Stühle der herkömmlichen Aufteilung der Welt – und damit auch der Förderinstitutionen. Diesen Mangel zu beheben und die „Indian Ocean Studies“ auch in Deutschland mit empirischen Forschungen zu bereichern, hat sich eine Forschergruppe unter der Leitung von Burkhard Schnepel am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle zum Ziel gesetzt. Unter dem programmatischen Titel „Connectivity in Motion: Port Cities of the Indian Ocean“ entstehen empirische Studien und werden methodologische und theoretische Fragen erörtert.

Amphibisch denken

Eine sowohl historische als auch gegenwartsbezogene Erforschung der Welt des Indischen Ozeans muss die Ausgangsperspektive wechseln und auch vom Meer aus denken. Der Historiker Ptak schreibt dazu: „,Konventionelle‘ Historiker befassen sich mit Ländern oder Regionen. Wenn sie die Meere in ihren Darstellungen berücksichtigen, dann blicken sie meist vom Land auf die See, als säßen sie auf einem Schemel inmitten ihres jeweiligen Gebietes. Jene, denen es um maritime Geschichte geht, hocken gleichsam in einem Boot und sehen in die andere Richtung, von der See aufs Land, vor allem auf die Küstenräume“ [3, S. 9]. Solch eine amphibische Sichtweise muss sich über eine Frage Klarheit verschaffen: Wie weit geht das Meer ins Land hinein? Die Beziehungen, Übergänge und Grenzen zwischen Land und Meer sind in der Welt des Indischen Ozeans vielfältig: Einmal sind sie fließend, dann wieder abrupt; einmal führen Flüsse ins Land hinein, dann Karawanen, Eisenbahnen oder Straßen. Teils gehen maritime Einflüsse unmerklich in das Landesinnere über, teils markieren steile Gebirgszüge klar die Grenzen zwischen maritim beeinflusstem und terrestrisch dominiertem Leben. Die Frage nach Übergängen und Grenzen kann daher immer nur mit klarem Blick für die raumzeitlich heterogenen und sich stets verändernden Gegebenheiten beantwortet werden. Legt man soziale, ökonomische, politische, kulturelle oder religiöse Maßstäbe an? Wo genau im Indik betrachtet man den Übergang vom Meer ins Land, mit Bezug auf welche Thematik und zu welcher historischen Periode?

Maritime Austauschbeziehungen und Transfers

Dass sich Geschichte, vor allem Welt- oder Globalgeschichte, kaum denken lässt, ohne Meere als verbindende Elemente einzubeziehen, erkannte schon früh der französische Historiker Jules Michelet in seinem bahnbrechenden Werk „Das Meer“ aus dem Jahr 1861 [4]. Mittlerweile gibt es zahlreiche wissenschaftliche Werke, die sich dezidiert mit Meeren beschäftigen [5, 6], wobei vielen Autoren Fernand Braudels historische Untersuchung des Mittelmeeres als Vorbild gilt [7].

Aber gibt es den Indischen Ozean überhaupt als Einheit? Besteht er in der Realität nicht eher aus vielen kleineren maritimen Regionen, die zwar in gewisser Weise vernetzt sind, aber eigentlich gesondert zu betrachten wären? Es spricht einiges dafür, den Indischen Ozean in Vergangenheit und Gegenwart in seiner Gänze zu betrachten. Diese Einheit in der Vielfalt kann allerdings nicht strikt geografischer Natur sein. Vielmehr gilt es, soziokulturelle, religiöse und nicht zuletzt ökonomische Austauschbeziehungen und Transfers in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. In dieser Perspektive zählt, wie weit menschliche Bewegungen und Kontakte über den Ozean hinweg gereicht haben, wie häufig und wie intensiv sie waren – es geht also um die transmaritimen Routen, Bewegungen, Austauschbeziehungen und Netzwerke. Die Ausmaße des Ozeans werden in dieser Sicht weniger durch physische Räume als durch die maritimen Bewegungen, Verknüpfungen und Verbindungen bestimmt. Den Indischen Ozean zu studieren, so das Hallenser Leitmotiv, heißt: „Konnektivität in Bewegung“ zu erforschen.

Dabei reisten und reisen nicht nur Menschen – seien es Seeleute, Händler, Pilger, Migranten, Touristen oder Abenteurer – auf dem Ozean. Auch Waren, ob nun Luxusgüter oder Güter des täglichen Gebrauchs, überqueren die See. Darüber hinaus finden Tiere und Pflanzen sowie leider auch Krankheiten und Müll den Weg über das Meer. Und nicht zuletzt verbreiten sich Sprachen, Religionen, Rituale, Herrschaftsansprüche, politische Systeme, Ideen, Ideologien, Tänze, Lieder und Phantasien mit zuweilen verblüffender Geschwindigkeit bis in die letzten Winkel des Ozeans. Und all diese materiellen und immateriellen, belebten und unbelebten Dinge ändern auf ihren Reisen auf die eine oder andere Weise ihre Funktionen und Bedeutungen. Diese Transfers und Veränderungen stellen eine wichtige Dimension der maritimen Forschung zu „Konnektivität in Bewegung“ in Halle dar.

Konnektivität in Bewegung in concretu

Diese besonderen erkenntnisleitenden Forschungsinteressen müssen natürlich mit konkreten historischen, ethnohistorischen und ethnologischen Daten und Analysen bereichert und überprüft werden. Um dem großen zeitlichen und räumlichen Untersuchungsrahmen der Welt des Indischen Ozeans empirisch gerecht zu werden, konzentrieren sich die diversen Teilprojekte des Programms auf jeweils eine Hafenstadt oder eine Insel. Hafenstädte und Inseln sind ja gewissermaßen als hubs, als Knotenpunkte, die eigentlichen Ausgangs-, Zwischen-, und Endstationen intensiver maritimer Bewegungen. Sie sind außerdem oft die Orte, von wo aus die Zirkulation ins Landesinnere hinein und vom Hinterland kommend abgewickelt wird. Damit bieten sie sich förmlich als Zugangsorte für die Mobilitäts-Forschung an.

Im Mittelpunkt der empirischen Untersuchungen der Forschergruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung stehen die Komoren, Madagaskar, Surat im Golf von Cambay, die Malediven, George Town auf Penang sowie die im südwestlichen Indischen Ozean gelegene Insel Mauritius. Diese bis zum 17. Jahrhundert unbewohnte Insel der Maskarenen-Gruppe wurde zunächst von der niederländischen Ostindien-Kompanie besiedelt. Aber nachdem die wertvollen Ebenhölzer abgeholzt und der Dodo, ein ausschließlich auf Mauritius beheimateter Vogel und bis heute ein Symbol für kolonialistischen Raubbau, ausgerottet waren, verließen die Niederländer die Insel wieder. Die Siedlungsbemühungen der Franzosen waren nachhaltiger, sodass sich die Insel im 18. Jahrhundert von einem Anlaufhafen für französische Schiffe auf dem Weg nach und von Indien zu einer stabilen Kolonie mit eigenen wirtschaftlichen Unternehmungen entwickeln konnte; so erfolgreich, dass die Briten, auch aus geostrategischen Gründen, im Jahre 1810 die Insel einnahmen und sie bis zur Unabhängigkeit im Jahre 1968 als Kolonie führten.

Geschichte und Gesellschaft der Insel lassen sich aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten [8, 9, 10]. Schnell stellt sich heraus, dass von Anfang an keineswegs der Aspekt der naturgegebenen Isolierung, sondern die Möglichkeit, sich weltweit zu vernetzen und zu bewegen, das Geschehen auf Mauritius beeinflusst hat. Seefahrer und Siedler kamen aus aller Welt: Franzosen und Briten als „Herren“, ausgebeutete Sklaven und Kontraktarbeiter aus Afrika, Indien und China. Sie brachten ihre eigenen Sprachen, Kulturen, Religionen und andere soziokulturelle Eigenarten mit, die sich im Laufe der Zeit veränderten oder sogar vermischten. Heute gilt Mauritius als ein gelungenes Beispiel für das friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen. Auch ökonomisch wird Mauritius häufig als ein Paradebeispiel angeführt, denn der moderne mauritische Nationalstaat hat sich, anders als die meisten seiner afrikanischen Nachbarn, zu einer Art „Tigerstaat“ gemausert. In wichtigen Industrien der Gegenwart wie Tourismus, Cybertechnologien und Offshore Banking ist Mauritius global aufgestellt und wirtschaftlich sehr erfolgreich.

Wie sich diese historischen Pfade und gegenwärtigen Umstände auch soziokulturell manifestieren, wird in der Forschung zum sogenannten Sega-Tanz untersucht. Afrikanische Sklaven brachten den Tanz im 18. Jahrhundert auf die Insel, durften ihn allerdings nur nachts und heimlich praktizieren. Nach der Sklavenbefreiung Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Tanz weiterhin verteufelt, vor allem von Missionaren, denen er zu lasziv und unchristlich erschien. Selbst nach der Unabhängigkeit waren die Sozialkritik, die in vielen Liedtexten zum Ausdruck kommt, und das Potenzial der Musik für eine Jugendrevolte den neuen, jetzt indisch-stämmigen Machthabern zu unbequem und gefährlich. Erst der in den 1970er-Jahren einsetzende Tourismus-Boom durch europäische Touristen hat das Bild des Sega, der in Fünf-Sterne-Hotels aufgeführt wurde und wird, positiv besetzt. Im Jahr 2014 hat die UNESCO den Tanz sogar zum Weltkulturerbe erklärt, eine Auszeichnung, die den immer noch wirtschaftlich benachteiligten Nachkommen der afrikanischen Sklaven zu mehr Respekt verhilft und ihnen neue Einkommensquellen erschließt.

Pars pro Toto

In all diesen Teilstudien der Mauritius-Forschung und in den anderen Projekten werden dem riesigen Puzzle, als das sich der Indische Ozean der Forschung darbietet, wichtige empirische Versatzstücke und Erkenntnisfacetten hinzugefügt. Mit Rückblick auf die Ziele des Programms sei daran erinnert: Letztlich geht es darum, den Indischen Ozean als Ganzes, sowohl in seiner historischer Tiefe als auch in der ganzen räumlichen Breite zu untersuchen und zu erfassen.

Literaturhinweise

1.
Alpers, E. A.
The Indian Ocean in world history
Oxford University Press, Oxford (2014)
2.

Pearson, M. N.

The Indian Ocean
Routledge, London (2003)
3.
Ptak, R.
Die maritime Seidenstraße
Beck Verlag, München (2007)
4.
Michelet, J.
Das Meer
Campus Verlag, Frankfurt/Main (2006 [1861])
5.
North, M.
Zwischen Hafen und Horizont. Weltgeschichte der Meere
Beck Verlag, München (2016)
6.
Richter, D.
Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft
Klaus Wagenbach, Berlin (2014)
7.
Braudel, F.
Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main (1990)
8.
Hookoomsing, V. Y.; Ludwig, R.; Schnepel, Burkhard (Hg.)
Multiple identities in action. Mauritius and some Antillean parallelisms
Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main (2009)
9.
Schnepel, B.; Schnepel, C.
Die Globalisierung des Strandes: Das Beispiel Mauritius
In: Zwischen Aneignung und Verfremdung. Ethnologische Gratwanderungen, 489–509 (Hg. Gottowik V.; Jebens, H.; Platte, E.). Campus Verlag, Frankfurt/Main (2009)
10.

Schnepel, B.; Alpers E. A. (Hg.)

Connectivity in Motion. Island Hubs in the Indian Ocean World
Palgrave Macmillan, Basingstoke (2017)
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