Reproduktionsmigration
Bildung, medizinische Versorgung, Unterhaltung – die vor allem mit dem Leben und nicht mit Waren zu tun haben – gehören zu den am schnellsten wachsenden Geschäftsfeldern. Sie profitieren generationsübergreifend von der Erhaltung, Reproduktion und Verbesserung des täglichen Lebens. Diese Geschäftsfelder entstehen dann, wenn lebensschaffende Aktivitäten von der Familie und der Gemeinschaft losgelöst werden. Gleichzeitig sind sie jedoch zwangsläufig wieder in Regelungen und Ideologien eingebettet.
Das Entstehen einer lebensschaffenden Wirtschaft zeigt die Unzulänglichkeiten gängiger Narrative über den aufstrebenden „Osten“, wie beispielsweise das Missverhältnis der globalen Verteilung von Migration und Produktion. Seit den 1990er Jahren zieht der Westen einen immer größeren Anteil der weltweiten Migrant*innen an, obwohl sein Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt zurückgegangen ist. China dagegen erlebt ein rapides Wachstum an Auslandsmobilität und wird gleichzeitig zu einem neuen Produktionshub. Die Hauptmotivation für diese Migrationsbewegungen ist nicht Geld, sondern der Zugang zu den Ressourcen eines guten Lebens (saubere Luft, Nahrung, Versorgung), auch wenn dieser mit finanziellen Einbußen einhergeht. Wird die Reproduktion die Produktion als Teil einer globalen Neukonfiguration wirtschaftlicher Beziehungen ersetzen?
Die lebensschaffenden Unternehmen entkoppeln reproduktive Aktivitäten von der Familie, der Gemeinschaft und der Nation und verwandeln sie in handelbare Dienstleistungen, Investitionsobjekte und Profitquellen. Organe müssen vom ursprünglichen Körper abgetrennt werden, um einen Wert zu erhalten. Durch Familienmitglieder geleistete Pflegeleistungen gelten dagegen nicht als monetär wertvoll. Die Entbettung von lebensschaffenden Aktivitäten geht notwendigerweise mit räumlicher Bewegung einher, denn diese Tätigkeiten sind per definitionem embodied, also in der körperlich-materiellen Welt verankert. Betreuungspersonen müssen sich in Bewegung setzen, um von der Familie entbettete Altenpflege zu leisten; Studierende verlassen ihre Heimatorte, wenn Bildung von staatlichen Sozialleistungen entbettet wird. Die lebensschaffende Wirtschaft bildet dennoch keinen uneingeschränkten freien Markt, sondern wird neu eingebettet in soziale Beziehungen (z.B. mit Intermediären), Normen (z.B. neue Formen des Familismus) sowie staatliche Vorschriften (wie besonders deutlich in Fällen von Heirats- und Geburtsmigration zu sehen ist). Folglich ist Reproduktionsmigration aufs engste mit politischen Maßnahmen, Strategien und Ideologien verflochten. Entbettung schöpft ökonomischen Wert; Neueinbettung schafft normative Werte.