Interview mit Katrin Seidel zu ihrer Habilitation über Südsudan und Somaliland
Am 10. Februar 2021 wurde Katrin Seidel von der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg habilitiert. Im Anschluss an ihren öffentlichen Vortrag wurde ihr die Venia Legendi für Rechtsethnologie, Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung verliehen. Ihre Habilitation schrieb sie zum Thema: “Internationalised Constitution-Making as Tool for Negotiating Statehood and Rule of Law: South Sudan’s and Somaliland’s Constitutional Genesis in the Context of Plural Legal (Dis-) Ordering”
Katrin Seidel war von Ende 2012 bis Ende 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘. Sie hat in dieser Zeit auf der Basis mehrerer Feldforschungsaufenthalte am Horn von Afrika die Staats- und Verfassungsbildungsprozesse im Südsudan und in Somaliland untersucht. Die Ergebnisse ihrer Forschung liegen jetzt in einer Habilitationsschrift vor und werden demnächst als Monographie erscheinen. Wir haben Katrin Seidel einige Fragen zu ihrem Spezialgebiet gestellt:
Katrin, erstmal herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Habilitation.
Vielen Dank. Ich bin froh, dass alles so gut gelaufen ist und ich mich jetzt darauf konzentrieren kann, die Forschungsergebnisse als Buch zu veröffentlichen.
Kannst Du kurz erklären, worum es in Deinem Buch gehen wird?
Ich habe die Verhandlungen über Staatlichkeit und Verfassung zwischen lokalen, nationalen und internationalen Akteuren in Südsudan und Somaliland untersucht. Im Südsudan existiert und in Somaliland existierte nach langen Bürgerkriegen keine Einigung darüber, wie Gesellschaft und Staat funktionieren sollen und auch nicht über die Prozesse, die zur Aushandlung solcher Fragen erforderlich sind. Dies ist auch eine Frage der politischen Willensbildung, die viel Zeit benötigt. Meine Studie untersucht insbesondere das Spannungsfeld zwischen internationalen politischen Interventionen und lokaler Eigenverantwortung. Letztlich geht es um die Aushandlung von Legitimität und Partizipation, von Grundwerten und dem Wesen einer politischen Gemeinschaft. Es geht auch um die Frage, in wieweit internationale Rechtsstaatlichkeitsförderung in Konfliktkontexten praxistauglich ist. Das heißt, ob sie die gesellschaftliche Konsensproduktion unterstützt oder eher die Suche nach Rechtssicherheit, Stabilität und Frieden behindert. Interessant und aufschlussreich ist der Vergleich zwischen Südsudan und Somaliland insbesondere deshalb, weil die Aushandlungsprozesse so unterschiedlich verlaufen und auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Was sind das für Unterschiede?
Der Südsudan wurde, wenige Tage nachdem er im Juli 2011 seine Unabhängigkeit vom Sudan erklärt hatte, von den Vereinten Nationen als 193. Mitgliedstaat aufgenommen. Als Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird das Land seitdem massiv von internationalen Organisationen und NGOs auch beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen unterstützt.
Ist diese Unterstützung erfolgreich gewesen?
Bisher liegen die Ergebnisse der Unterstützung weit hinter den Zielvorstellungen. Die Lage im Südsudan ist ein Beispiel dafür, wie gutgemeinte Versuche, eine Verfassung und einen Staat aus vordefinierten internationalen Konzepten und Modulen zu erstellen, in eine Sackgasse geraten, wenn zuvor kein Konsens über die weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen erreicht wurde. Die Instrumente externer staatlicher oder internationaler Akteure sind in der Regel viel zu wenig auf den lokalen Kontext vor Ort abgestimmt. Man kann mit dieser Vorgehensweise unter Umständen zwar schnelle Ergebnisse auf dem Papier erzielen, aber in der konkreten Rechtspraxis vor Ort sind sie entweder wirkungslos oder sogar kontraproduktiv, da die Rechtswirklichkeit sehr komplex ist und das Eingreifen von außen die unterschiedlichen normativen Ordnungen und ihre Träger zu wenig berücksichtigt.
Welche Konsequenzen hat diese unzureichende Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten?
Sie erzeugt Widerstände. Und lokale Eliten setzen ihre Interessen nicht nur politisch, sondern notfalls auch militärisch durch. Auch die vielbeschworene Idee der „Einheit in der Vielfalt“, die in der Übergangsverfassung festgeschrieben wurde und die das politische Fundament des jungen souveränen Staates Südsudan bilden soll, scheint in der Realität nach wie vor Gegenstand von Verhandlungen zu sein. Weder die Top-down-Produktion der Übergangsverfassungen noch die bisherigen Aushandlungen einer Verfassung konnten die Legitimität des Staates steigern. Obwohl die staatliche Anerkennung erst nach einer mehrjährigen Übergangsphase erfolgte – im Anschluss an die Beilegung des langen sudanesischen Bürgerkrieges im "Comprehensive Peace Agreement" 2005 – zeigt sich hier, dass allein die Anerkennung eines Staates nicht für Stabilität und Frieden sorgen kann. Im Gegenteil, ein Wechsel zwischen gewaltsamen und gewaltfreien Phasen ist ein häufiger Begleiter von Staatswerdungsprozessen. Insbesondere dann, wenn die Macht in den Händen ehemaliger militärischer Akteure bleibt. Hinzu kommt, dass die Regierung mit den reichlichen Einnahmen aus der Ölförderung immer wieder ihre Macht auch gegen den Widerstand marginalisierter politischer Akteure absichern konnte.
Was ist im Südsudan die Folge dieser Entwicklung?
Die letzten Jahre zeigen immer wieder Machtgerangel um Ressourcen, eskalierende Gewalt unter den zersplitterten politischen und militärischen Akteuren, lokale bewaffnete Konflikte und Hunderttausende vertriebene Menschen. Der Präsident regiert verstärkt mit Hilfe von Änderungen der Übergangsverfassung, Präsidialdekreten und Notstandsgesetzen. Immer wieder wird unter Beteiligung der internationalen Staatengemeinschaft und deren Unterhändlern über Friedens- und Verfassungsprozesse und den Aufbau eines zivilen Staates verhandelt. Aber ob und wann diese Befriedungsversuche zu mehr Stabilität führen, ist eine offene Frage, die im Augenblick niemand beantworten kann.
Und wie ist der Prozess des Staatsaufbaus in Somaliland verlaufen?
Völlig anders als im Südsudan. Auch hier ging der Unabhängigkeitserklärung von 1991 ein langer Bürgerkrieg in Nordsomalia voraus. Doch im Gegensatz zum Südsudan wurde das Land nach der Machtübernahme der lokalen Guerillaarmee und der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von Somalia nicht international als Staat anerkannt. Das ist bis heute so geblieben. Das heißt, das Land ist weitestgehend isoliert und auf sich selbst angewiesen. Das sind eigentlich keine guten Bedingungen für den gesellschaftlichen und politischen Wiederaufbau nach militärischen Konflikten. Aber in meiner Studie konnte ich zeigen, dass diese Situation gerade in der Frühphase des Staatsaufbaues eher stabilisierend wirkte.
Wo liegen denn die Vorteile der Isolation?
Vorteile würde ich es nicht nennen, aber zumindest war ein erheblicher Effekt der Isolation, dass lokale Akteure eigenverantwortlich unter Einsatz der eigenen Ressourcen und direkt verantwortlich gegenüber der lokalen Bevölkerung verhandelt haben. Es gab kaum internationale Interventionen, auch keine extra Finanzierung und natürlich keine externen Forderungen bezüglich Rechtsstaatlichkeit und anderer politischer Orientierungen. Erfolgreich waren diese Verhandlungen, weil konsequent lokale Konfliktbeilegungsmechanismen genutzt wurden und sich dann immer auch sofort beweisen mussten. Das hat dazu geführt, dass die Verhandlungen über den politischen Rahmen des Landes, die fast über ein Jahrzehnt dauerten, schließlich zu einer Verfassung geführt haben. Sie wurde 2001 in einem Referendum angenommen und hat bis heute Bestand. Das politische System in Somaliland hat damit eine wesentlich höhere Legitimität als die bisher etablierten Governance-Strukturen im Südsudan.
Haben die Militärs denn ihre Macht so einfach abgegeben?
Natürlich nicht einfach so. Aber ja, ein sehr bemerkenswertes Merkmal des Staatsaufbau- und Verfassungsprozesses in Somaliland ist, dass die frühere Befreiungsbewegung SNM 1993 die Macht an zivile politische Akteure übergab. Die Guerillaarmee hat sich damit auch dem Druck der Bevölkerung gebeugt und um des Friedens willen, den Anspruch auf die Regierung aufgegeben. Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass sich auf Grund der Isolation Somalilands zu diesem Zeitpunkt eben keine starke von außen unterstützte Persönlichkeit gegen die eigenen Leute durchsetzen konnte. Zwar gab es auch unter der zivilen Regierung zwischen 1994 und 1995 noch eine militärische Auseinandersetzung in Somaliland. Doch konnte auch diese im Wesentlichen im Rahmen lokaler Mediationsverfahren beigelegt werden. Somaliland ist einer der wenigen Fälle im postkolonialen Afrika, in dem eine siegreiche Befreiungsbewegung freiwillig die Macht abgegeben hat – und das nach nur zwei Jahren.
Aber auf Dauer ist die Isolation doch sicherlich auch keine attraktive Perspektive für die Menschen.
Ja, das stimmt, die Isolation führt zu erheblicher Unzufriedenheit insbesondere unter den jungen Leuten, die sich eingeschlossen fühlen und sozioökonomisch wenig Perspektive für sich sehen. Inzwischen wären aus Sicht vieler SomaliländerInnen Entwicklungszusammenarbeitsmaßnahmen und Infrastrukturprojekte wünschenswert, die allerdings durch externe Kredite finanziert werden müssten. Einige Kooperationen haben in den letzten Jahren auch schon begonnen, aber unterhalb der Schwelle internationaler Anerkennung. Auch fühlen sich die politisch aktiven Frauen ohne internationale Unterstützung in ihren Interessen nicht hinreichend berücksichtigt. Denn die traditionellen patriarchalischen Strukturen konnten sich schon während des Verfassungsprozesses weiter durchsetzen. Das wäre mit mehr internationalem rechtlichen und politischen Druck vermutlich anders verhandelt worden.
Du warst zwischen 2013 und 2017 mehrfach für mehrere Monate zur Feldforschung am Horn von Afrika. Wie riskant ist so ein Aufenthalt in einem Bürgerkriegsgebiet?
Es ist nicht einfach, sich an einem Ort wie Südsudan zu bewegen, an dem Unsicherheit und Gewalt zur alltäglichen Erfahrung gehört. Für meine Sicherheit war es entscheidend, dass ich die Ratschläge der einheimischen Akteure und KollegInnen strikt befolgt habe. Es hat mir auch geholfen, dass ich gute und verlässliche Kontakte hatte und mich auf ein stabiles Informationsnetzwerk verlassen konnte. Aber klar ist, dass sich nie alle Eventualitäten vorhersehen lassen. Ein gewisses Risiko bleibt immer. Das ist unvermeidlich. Und ich bin mir nicht sicher, ob oder inwieweit ich unter diesen schwierigen Verhältnissen überhaupt in der Lage gewesen wäre, meine Feldforschung durchzuführen, wenn ich mich nicht jederzeit auf die dankenswerte Unterstützung meiner Kontaktpersonen hätte verlassen können.
Und wie hast Du für die Sicherheit Deiner Gesprächspartner gesorgt?
Die Sorge um die Sicherheit meiner Kontaktpersonen und GesprächspartnerInnen hat bei mir für zusätzlichen Stress gesorgt. Denn ich konnte ja jederzeit das Land verlassen, die lokalen Akteure können das nicht. Die politische Lage erforderte größte Achtsamkeit und Vorsicht beim Aushandeln des Zugangs zum Feld. Die Frage des Umgangs mit ihrer und meiner Sicherheit, des Schutzes der Daten, der Vertraulichkeit und Anonymität einiger GesprächspartnerInnen erforderten flexible Learning-by-Doing-Sicherheitsstrategien. Die ständige Unsicherheit und Ungewissheit waren eine große emotionale Herausforderung für mich.