Zwischen Kulturwelten: Das Schicksal der Uiguren
Forschungsbericht (importiert) 2020 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung
Chinas Minderheitenpolitik unterscheidet nicht zwischen Gruppen, die sich durch Folklore exotisieren, und Volksgruppen wie Tibetern, Mongolen und Uiguren mit einer langen Zivilisationsgeschichte. Die Lage der Uiguren verbesserte sich in den 1980ern, um sich danach rapide zu verschlechtern. Die „Freiheiten“ einer sozialistischen Marktwirtschaft ließen Angehörige von Minderheiten zu Bürgern zweiter Klasse werden und setzten sie unter Druck, sich zu assimilieren. Unsere Forschung dokumentiert diese Entwicklungen auf Basis von Feldforschungen in der Oase Qumul/Hami zwischen 2006 und 2013.
Die Uiguren sind ein 11-Millionen-Volk: im Vergleich zu den Minderheiten in EU-Staaten eine überdurchschnittliche Größe, aber in der Volksrepublik China nur eine von 55 anerkannten Minderheiten gegenüber 1,3 Milliarden Han. Xinjiang, ihre Heimat im Nordwesten des Landes, ist größer als Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien zusammen. Die Region ist wirtschaftlich und strategisch sehr wichtig für die Regierung in Peking.
Die Uiguren bilden seit Jahrhunderten den östlichsten Teil einer muslimischen und turksprachigen Kulturwelt (oder civilization – s. [1]), die im Westen bis zum Balkan reicht. Ihre Siedlungen entlang der Seidenstraße wurden Mitte des 18. Jahrhunderts vom Manchu-Kaiser Qianlong erobert. Es folgte ein langer Integrationsprozess. Kurz vor der Gründung der Volksrepublik 1949 machten die Uiguren mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Xinjiangs aus; Han dagegen nur 5 Prozent. Im 21. Jahrhundert ist das Verhältnis beinahe ausgeglichen. Um das zerbrechliche Zusammenleben dieser Volksgruppen in jüngster Zeit besser zu verstehen, haben wir – Ildikó Bellér-Hann und Chris Hann – seit den 1980er Jahren mehrere Feldforschungen durchgeführt.
Zu Beginn der sozialistischen Ära war das ethnische Bewusstsein der Uiguren wenig entwickelt: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Oase war wichtiger. Die Regierung von Mao Zedong ahmte die stalinistische Minderheitenpolitik nach: Gruppen wurden (mit der Hilfe von Ethnologen) neu klassifiziert und deren kulturellen Rechte wurden anerkannt und unterstützt. Der entscheidende Unterschied zur UdSSR war, dass sich Mao statt für Föderalismus für die Einheitlichkeit des Reiches der Mitte entschied. Xinjiang wurde 1955 zu einem Uigurischen Autonomen Gebiet erklärt, nicht zu einer Republik (wie zum Beispiel Usbekistan in der UdSSR). Durch ein neues (marxistisches, nicht muslimisch geprägtes) Schulsystem entstand eine uigurische Hochkultur, deren Trägern – zum Teil durch positive Diskriminierung – in staatlichen Behörden und Unternehmen Stellen angeboten wurden.
In den 1990er Jahren konnten wir ländliche Entwicklungen im Süden Xinjiangs untersuchen, wo die meisten Uiguren leben. Diese wollten wir ab 2006 im Rahmen einer Max-Planck-Forschungsgruppe mit dem Schwerpunkt Verwandtschaft und Soziale Sicherheit fortsetzen, aber die politische Lage in Kashgar ließ dies nicht mehr zu. Eine Genehmigung bekamen sie nur für die östlichste Oase an der Grenze zur Provinz Gansu. In Qumul (Uigurisch: قۇمۇل; Chinesisch: Hami, 哈密) bestand die städtische Bevölkerung überwiegend aus Han und die stabilen ethnischen Beziehungen ermöglichten eine Feldforschung von acht Monaten. 2009 und 2013 verschärfte sich die Situation und seit 2016 ist es unmöglich, eine Forschungsgenehmigung zu erhalten. Zurzeit sitzen unsere Forschungspartner im Gefängnis oder in den gefürchteten Umerziehungslagern, zusammen mit mehr als einer Million anderer Uiguren.
Die bisherigen Untersuchungsergebnisse haben wir in einem kürzlich erschienenen Buch zusammengefasst [2]. Das Erblühen einer uigurischen Kultur nach Maos Tod 1976 ging nicht mit politischer Autonomie einher. Religion wurde zunehmend unterdrückt und die neue ökonomische Freiheit war für die meisten Uiguren kaum von Vorteil. Selbst diejenigen, die gut Chinesisch sprechen, wurden in allen Bereichen zugunsten von Han übergangen. In den meisten ländlichen Gebieten Chinas ist Migration in Richtung der Städte des Ostens und Südens der einzige Ausweg, aber diese Option ist für uigurische Bauern schwer umzusetzen, weil sie die Staatssprache nicht beherrschen und ihnen die nötigen Netzwerke fehlen. Diejenigen, die es trotzdem spontan versuchen, werden im alltäglichen Leben beschimpft und diskriminiert, wie jüngst von meinem Doktoranden Pablo Ampuero Ruiz in der Megastadt Shenzhen im Rahmen seines Dissertationsprojekts untersucht (Titel: “They Must Be Represented”: (Re)producing Social Hierarchies amongst Migrant Workers in Southern China). Der Staat hat sich zunehmend eingemischt, um die Mobilität zu kontrollieren. Junge uigurische Arbeiter werden für Großbetriebe innerhalb und außerhalb Xinjiangs zwangsrekrutiert. Viele Uiguren haben daher ein Gefühl der „Fremdheit im eigenen Land“ entwickelt [3]. Einige schlossen sich im Ausland den Taliban an und verübten zu Hause Gewalttaten gegen Han. Statt die strukturellen Probleme anzugehen, nutzte die Regierung als Reaktion den weltweiten „Kampf gegen Terror“, um im ganzen Land Islamophobie und Nationalismus zu verstärken.
Durch unsere Forschung konnten wir die Frustrationen und Ressentiments der Uiguren dokumentieren. Außerhalb der Stadt Qumul ist eine neue Ölindustrie entstanden, in der Tausende von Han-Immigranten gutes Geld verdienen, Uiguren finden hier hingegen keine Arbeit. Die Minderheitenpolitik oszilliert zwischen der Folklorisierung bestimmter ethnischer Gebräuche und Repression. In den letzten Jahren sind die Frühjahrsrituale zu Noruz (21. März) vom Staat aufgenommen und in Schulen und öffentlichen Räumen verbreitet worden, obwohl dieses Fest eigentlich keine Tradition bei den Uiguren hat. Diese Unterstützung erklärt sich damit, dass die Uiguren endlich einen Feiertag haben sollen, der nichts mit dem Islam zu tun hat. In der Realität sind die muslimischen Feiertage von Ramadan und Qurban für alle Uiguren von größerer Bedeutung, selbst für diejenigen, die wegen ihrer Arbeit als Lehrer oder im Staatsdienst die Moschee nie besuchen dürfen. In Qumul zerstört der Staat mit Bulldozern religiöses Erbe und Friedhöfe, um stattdessen etwa Themenparks für Han-Touristen zu schaffen.
Während ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Uiguren mit den eng verwandten Usbeken vergleichen, die seit fast drei Jahrzehnten ihren eigenen Staat aufbauen, nimmt die Han-Mehrheit diese Volksgruppe völlig anders wahr. Aus ihrer Sicht ist es höchste Zeit, dass die gesamte Bevölkerung Xinjiangs die Amtssprache beherrscht und sich primär mit dem chinesischen Staat identifiziert. Unsere Feldforschung wirft die Frage auf, ob es der chinesischen Staats- und Parteiführung gelingen kann, eine durch die eigene Minderheitenpolitik hervorgebrachte Volksgruppe (uigurisch: millät) von 11 Millionen in eine gänzlich andere Kulturwelt zu assimilieren. Kapitalistische Marktwirtschaft wird global mit dem Entstehen von neuen Ungleichheiten und Klassenunterschieden assoziiert. Differenzierungen dieser Art gibt es zwar auch innerhalb der uigurischen Gesellschaft; aber für das heutige Xinjiang zeigen die Forschungsergebnisse, dass die ethnische Kluft eine weit größere Rolle spielt.