Florian Köhler erhält den Amaury Talbot Prize
MPI-Mitarbeiter Florian Köhler hat den Amaury Talbot Prize for African Anthropology des Royal Anthropological Institute für sein Buch Space, Place and Identity: Wodaabe of Niger in the 21st Century erhalten. Wir haben mit ihm über das Buch gesprochen, das auf seiner Forschung über die sich wandelnden Lebensbedingungen von nomadischen Viehaltern in Niger basiert.
Florian, worum geht es in Deinem Buch?
Das Buch untersucht am Beispiel einer Gruppe von Fulbe in Niger, wie sich räumliche Muster, Mobilität und damit auch kollektive Identitäten und Beziehungen zu anderen sozialen Gruppen verändern, wenn Nomaden sesshaft werden. In Niger wie auch anderswo wird die Mobilität von nomadischen oder halbnomadischen Viehhaltern oft als Strategie des Sich-dem-Staate-entziehens angesehen, und auch in der Forschung zu mobilen Gruppen ist dieser Topos verbreitet.
Könntest Du das etwas näher ausführen?
Nomaden werden oft geradezu als Inbegriff von widerständigen, die Dominanz des Staates untergrabenden Gruppen dargestellt. Einerseits hinterfrage ich diese Darstellung in meinem Buch, andererseits beschäftige ich mich mit der Frage, was passiert, wenn die Mobilität solcher Gruppen geringer wird, wenn sie sesshaft werden.
Kannst Du auf der Basis Deiner Forschung die Frage nach diesen Veränderungen beantworten?
Ja, aber es ist keine einfache Antwort. Denn es ist nicht so, dass Sedentarisierungsprozesse in meiner Untersuchungsregion objektiv zu weniger Mobilität führen. Und das ist ein interessantes Paradox: Während in Niger und auch im weiteren Sahel überall von Sedentarisierung und Mobilitätsverlust der Viehhalter die Rede ist, entwickeln sich parallel dazu neue Formen von Mobilität. Während der vergangenen knapp 20 Jahre, seit ich die Region kenne und die Entwicklungen dort verfolge, ist zum Beispiel die Gesellschaft als ganze viel mobiler geworden. Auch betrifft die Sesshaftwerdung oft nicht die soziale Gruppe als ganze, sondern es gibt vielmehr komplementäre Wirtschaftsmodelle innerhalb von Familienverbänden.
Wie kann man sich das vorstellen?
Einige Familienmitglieder ziehen beispielsweise als Arbeitsmigranten saisonal oder dauerhaft in Städte, und mit Teilen ihres Einkommens unterstützen sie andere Teile ihrer Familienverbände, die weiter ein Leben als Viehhalter führen. Diese komplementären Wirtschaftsmodelle sind sehr flexibel und gleichzeitig höchst mobil.
Was verändert sich durch diese neue Form der Mobilität?
Es entstehen neue räumliche Muster sozialer Interaktion, die man mit dem Begriff der Translokalität fassen kann. In der Tat ist mein Buch einerseits ein Beitrag zur Migrations-, Mobilitäts- und Translokalitätforschung; andererseits ist es ein Beitrag zur Erforschung der Wodaabe, und allgemeiner der Fulbe, indem es zeitgenössische Veränderungen in sozioökonomischen und räumlichen Strategien dokumentiert.
Wie bist Du darauf gekommen, Dich mit der Mobilität von Nomaden zu beschäftigen?
Ich habe vor der Forschung für meine Dissertation insgesamt fünf Jahre in Niger gelebt und gearbeitet, und zwar unter anderem in einem Projekt zur Integration von mobilen Viehhaltern in staatliche Institutionen und Entscheidungsstrukturen. Da ist die Fragestellung naheliegend: warum ist ein solches Projekt überhaupt notwendig; was steht einer solchen Integration im Weg; welche externen Faktoren spielen eine Rolle – auf der Seite des Staats und der anderen gesellschaftlichen Gruppen – aber auch welche internen Faktoren: was ist eigentlich das Interesse der mobilen Viehhalter an Integration, oder im Gegenteil, an Abgrenzung und der Bewahrung einer gewissen Autonomie – und wie haben sich diese Abwägungen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert?
Und was genau hat Dich dabei interessiert?
Einerseits ist die Frage der Integration oder Abgrenzung von mobilen Gruppen gegenüber dem Staat interessant: Was sind die Interessen der Viehhalter? Heute beispielsweise ist der Zugang zu Entwicklungsprojekten und deren Ressourcen eine wichtige Motivation für Integration. Aber noch wichtiger als solche materiellen Aspekte ist die Frage der politischen Interessensvertretung. Umgekehrt sollte der Staat selbst auch ein Interesse an einer Integration von Viehhaltern haben, die ihnen gleichzeitig ihre Mobilität weiter ermöglicht.
Welche Interessen hat der Staat an der Mobilität von Viehaltern?
Die mobile Viehhaltung hat eine große wirtschaftliche Bedeutung für den nigrischen Staat, allerdings wird dieser Nutzen oft nicht so gesehen – nicht zuletzt aufgrund von Vorurteilen. Nomadische und mobile Landnutzung wird oft als rückständig und unzeitgemäß abgetan, dabei haben Studien gezeigt, dass sie unter den ökologischen Bedingungen des Sahel produktiver und besser angepasst sind, als stationäre Viehhaltung, etwa Ranching-Modelle. Und deshalb zielen Entwicklungsprojekte für Viehhalter oft am eigentlichen Bedarf vorbei. Ein besseres Verständnis der Zusammenhänge würde sicherlich zu besser angepassten Entwicklungsinitiativen beitragen, und damit letztendlich zu einer nachhaltigeren und effizienteren Verwendung von Ressourcen.
Würdest Du sagen, dass Nomaden auch so etwas wie Opfer der Modernisierung sind und deshalb ihr Leben nicht mehr so leben können wie früher?
Tatsächlich wird der Raum der nomadischen Viehhaltung immer mehr beschnitten. Dennoch war es mir wichtig, die Darstellung der Nomaden nicht auf eine passive Opferrolle zu verengen. Was mir bei der Erforschung des wirtschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Diversifizierung wichtig war, ist, zu zeigen, dass Nomaden, die sesshaft oder halbsesshaft werden, nicht einfach passive Opfer sind. Damit soll nichts beschönigt werden, sie sind sicher auch oft genug Opfer, aber daraus folgt keine Passivität.
Wie gehen sie mit der Situation um?
Wenn etwas wirklich kennzeichnend für Nomaden sein sollte, dann ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. In meinem Buch zeige ich einerseits, dass ihnen diese Flexibilität auch heute hilft, sich neuen Herausforderungen und Widrigkeiten zu stellen, und das oft auf kreative Weise. Allerdings zeige ich auch, dass diese Anpassungsfähigkeit heute, wo Ressourcendruck und die daraus resultierenden Verteilungskämpfe zunehmen, oft an ihre Grenzen stößt.
Welche Grenzen sind das genau?
Die Interaktionen mit staatlichen oder staatsähnlichen Akteuren sind in letzter Zeit häufig von Gewalt geprägt: Bewaffnete Gruppen treten als neue Akteure in abgelegenen, oft nur begrenzt staatlich kontrollierten Regionen auf und gerieren sich als Machthaber – in genau den Regionen, in denen sich Nomaden historisch oft ihre relative Autonomie gegenüber dem Staat erhalten haben. Mit der Frage, wie die mobilen Gruppen mit diesen neuen gewaltsamen Akteuren umgehen, beschäftige ich mich in meinem Folgeprojekt.
Gibt es ein abschließendes Ergebnis Deiner Forschung in Niger?
Auf ein Ergebnis lässt sich das schlecht reduzieren. Eher gibt es Erkenntnisse auf verschiedenen Ebenen. Während die Wodaabe in den klassischen Studien des 20. Jahrhunderts als sehr mobile, höchst spezialisierte Rindernomaden dargestellt worden sind, zeigt meine Bestandsaufnahme, dass man für die heutige Situation eher sagen kann, dass Pastoralismus und Agropastoralismus einerseits und urbane Arbeitsmigration andererseits zu gleichberechtigten Wirtschaftsbereichen geworden sind. Und ich versuche aufzuzeigen, wie sich das zu einem systemischen Ganzen verbindet.
Wie passen nomadische Lebensformen und Urbanisierung zusammen?
Die Stadt und der Busch sind komplementäre Lebensräume und zwischen beiden besteht ein komplexes Netz translokaler sozialer Beziehungen, mit einem ständigen Austausch zwischen Akteuren in diesen beiden Sphären und ständiger Fluktuation von Akteuren zwischen beiden Sphären. Durch die wirtschaftliche Diversifizierung verändert sich auch die soziale Gruppe. Neben dem traditionellen mobilen Familienverband erhält die lokale Gemeinschaft zunehmend Bedeutung, bleibt allerdings oft sehr flexibel. Und andererseits bleiben selbst im urbanen Raum Verwandtschaft, Ethnizität und kulturelle Identität wesentlich für die Herausbildung von neuen sozialen Gemeinschaften.
Du sprichst von Erkenntnissen auf mehreren Ebenen. Hast Du noch ein Beispiel für ein Ergebnis Deiner Arbeit?
Ja, ein weiteres Ergebnis betrifft etwa den Zusammenhang zwischen Sedentarisierungsprozessen und Entwicklungsprogrammen einerseits, und andererseits sich verändernder gesetzlicher Rahmenbedingungen. So war eine wichtige Motivation für das Etablieren von Siedlungszentren die Teilhabe an den Ressourcen von Projekten, die eben einen solchen fixen Siedlungspunkt oft zur Voraussetzung für die Teilnahme machten. Andererseits gibt es seit einigen Jahren ein neues Rahmengesetz für die Viehzucht, den Code Pastoral, das Viehhaltern verbriefte Rechte an Weidegründen zugesteht – allerdings ebenfalls unter dem Vorbehalt einer lokalen Fixierung. Also werden solche Fixpunkte pro forma geschaffen.
Wie kann man sich das vorstellen?
Meist dient dazu ein Weidebrunnen im Besitz eines Familienverbandes. Das heißt allerdings eben nicht, dass die ganze soziale Gruppe dauerhaft dort siedelt. Man versucht eher, Minimalkriterien zu entsprechen, um Zugang zu Ressourcen zu sichern. Ich spreche hier von selektiver Integration. Solche Beispiele zeigen deutlich, dass staatliche Maßnahmen und Regelungen oft an den eigentlichen Bedürfnissen der Viehhalter vorbeigehen.
Hält der von Dir beschriebene Wandel immer noch an?
Ja, die Entwicklungen in der Region sind höchst dynamisch. Die Dinge entwickeln sich rasch weiter und viele der von mir beschriebenen Muster und Strategien haben sich seither schon wieder stark verändert. Insofern würde ich all das auch nicht als abschließende Ergebnisse betrachten, sondern als Analyse eines sich beständig und teilweise rasant wandelnden Status quo.
Du hast eben schon kurz angesprochen, dass Du derzeit an einem neuen Projekt arbeitest, in dem es um den zunehmenden Einfluss bewaffneten Gruppen in der Region geht. Könntest Du dazu noch etwas mehr sagen?
Seit meiner Feldforschung für das Buch haben sich die Sicherheitslage, und damit die Forschungsbedingungen, in der Region dramatisch verschlechtert. Dschihadistische bewaffnete Gruppen haben sich sowohl im Sahararaum, als auch in Nordnigeria stark ausgebreitet. In meiner Forschungsregion in Ost-Niger kam es seit 2015 zu Angriffen durch Boko-Haram und den regionalen IS-Ableger ISWAP.
Wie hat dies Zunahme an Gewalt Deine Forschung verändert?
Gewalt macht einerseits das Forschen sehr schwierig, andererseits ist sie natürlich ein sehr wichtiges Thema. Die Gewalt hat teilweise dramatische Auswirkungen für die Menschen, mit denen ich geforscht habe. Ich stand vor der Wahl, mich entweder einer anderen Forschungsregion zuzuwenden oder eben die veränderten Bedingungen selbst zum Forschungsthema zu machen.
Welchen Einfluss hat die Gewalt von Boko Haram auf das Leben der Nomaden?
Seit sich Boko Haram und ISWAP auch im Tschadseeraum des östlichen Niger festgesetzt haben, stehen die mobilen Viehhalter dieser Region vor einem schwierigen Dilemma: entweder sie meiden die entsprechenden Gebiete, was jedoch bedeutet, dass sie den Zugang zu wichtigen Weidegebieten verlieren – oder sie gehen das Wagnis ein, doch in diese Gebiete zu ziehen und sind dann oft gezwungen, sich auf sehr heikle Abkommen mit den Gewaltakteuren einzulassen. Der „Islamische Staat“ versteht sich ja als Staatsprojekt, und entsprechend tritt ISWAP in der Region auch auf: von den Viehhaltern und anderen Akteuren wie Fischern und Gartenbauern, die in die von ihm kontrollierten kommen, werden beispielsweise „Steuern“ erhoben. Wir würden das eher als Schutzgelderpressung betrachten, aber man muss berücksichtigen, dass das Auftreten des Staates für viele ländliche Akteure in der Region auch gewaltbestimmt und willkürlich erscheint, insbesondere im Rahmen der staatlichen Maßnahmen gegen Boko Haram. Für den Staat sind die Viehhalter und andere ländliche Akteure, die sich auf jegliche Form der Interaktion mit den nichtstaatlichen Gewaltakteuren einlassen, schnell einfach selbst „Terroristen“ und sie haben entsprechende Konsequenzen zu befürchten. Dabei geht es für sie nicht um Ideologien, sondern in der Regel einfach ums Überleben ihrer Herden. Wo der Staat Sicherheit und wirtschaftliche Grundlagen nicht garantieren kann, erscheinen gefährliche Allianzen mit dubiosen anderen Akteuren oft als das notwendige kleinere Übel.