Koloniale Vergangenheit und die Rolle des Familiengedächtnisses
Am 21. und 22. September findet am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (MPI) ein Online-Workshop mit dem Titel "Colonialism and Transgenerational Memory in Europe" statt. Historiker und Ethnologen werden sich mit der Frage beschäftigen, welche Rolle die in den Familien weitergegebenen Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit in Europa in der Gegenwart spielen. Der Workshop wird von Markus Wurzer organisiert, der Mitglied der unabhängigen MPI-Forschungsgruppe 'Alpine Histories of Global Change' am MPI ist. Wenn Sie Interesse an der Teilnahme haben, melden Sie sich bitte bei Sophie Schreyer (schreyer@eth.mpg.de) an.
Die Bedeutung des Familiengedächtnisses
In den letzten Jahren wurden der Kolonialismus, sein Erinnern und seine verschiedenen Hinterlassenschaften auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Kontexten untersucht, um zu zeigen, wie die koloniale Vergangenheit die Gegenwart noch immer prägt. Während sich die Wissenschaft mit kolonialen Zeugnissen – beispielsweise in Museen und öffentlichen Räumen – beschäftigt hat, wurde einem anderer "Ort" des kollektiven Gedächtnisses kaum Beachtung geschenkt: dem Familiengedächtniss. „Dieses Desiderat ist umso erstaunlicher, als das transgenerationale Gedächtnis als eine der wichtigsten Quellen des kollektiven Gedächtnisses gilt, insbesondere wenn es um die Weitergabe und Konstruktion eines historischen Bewusstseins geht“, sagt Markus Wurzer.
Das Narrativ des "guten" Kolonialisten
"Gewöhnliche" Kolonialbeamte, Soldaten und andere Akteure brachten Gegenstände wie Postkarten, Fotos oder "Andenken" sowie Geschichten mit nach Hause, die in Europa in den Familien über Generationen hinweg weitergegeben wurden. Vor diesem Hintergrund geht der Workshop "Colonialism and Transgenerational Memory in Europe" von zwei Prämissen aus. Erstens prägt dieser Prozess maßgeblich die kollektive Vorstellung von der kolonialen Vergangenheit. Zweitens sind Familienerinnerungen nicht unpolitisch: Wenn sie über Generationen hinweg aufbewahrt werden, überliefern solche Erzählungen und Objekte Interpretationen kolonialer Ereignisse, die auf Allgemeinwissen beruhen und bestimmte Vorstellungen wie die Idee der "weißen" Überlegenheit stärken. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass der Mythos des "guten" Kolonialisten, wie er in vielen europäischen Gesellschaften kursiert, deshalb so mächtig ist, weil diese Geschichtsvorstellung in der persönlichen Ebene der Familie verwurzelt ist. „In der Regel stellen sich Familien ihre Verwandten, die an kolonialen Unternehmungen beteiligt waren, als anständige und moralisch aufrechte Kolonialisten vor und weisen die Möglichkeit, dass sie an kolonialer Gewalt beteiligt waren, vehement zurück“, sagt Wurzer. „Letztere wird immer externalisiert und anderen Gruppen, anderen Akteuren oder sogar anderen Kolonialmächten zugeschrieben. Daher ist es höchste Zeit, den Kolonialismus in der transgenerationalen Erinnerung zu behandeln.“ In diesem Workshop wird es um die Frage gehen, wie und welche Erinnerungen an eine koloniale Vergangenheit in europäischen Familien weitergegeben werden, deren Vorfahren im 19. und 20. Jahrhundert entweder als Kolonisatoren oder als Kolonisierte an Ent-/Kolonialisierungsprozessen beteiligt waren.