Vergiftungen, Illegalität und Protest: Eine Landschaft der Kohle in Südindien
Raghavans Forschungsprojekt befasst sich mit dem Bau und Betrieb staatlicher, Kohlekraftwerke in Ennore, einem Vorort von Chennai in Tamil Nadu, Indien. Zu Beginn seiner Doktorarbeit im Jahr 2018 wurden in Ennore kohlebasierte Energieprojekte im Umfang von fast 2.500 Megawatt entwickelt, die zu den bestehenden 3.000 Megawatt kohlegefeuerter Wärmeenergie hinzukommen sollten. Offiziell hingehen hat die indische Regierung die Abkehr von fossilen Brennstoffen beschlossen. Raghavan bearbeitet diesen scheinbaren Wiederspruch basierend auf dreizehn Monaten ethnografischer Feldforschung (2018-2019) in denen er den alltäglichen Umgang mit Kohle und kohlebasierten Infrastrukturen in sozialen, politischen und ökologischen Kontexten von Ennore untersuchte.
Er beschreibt wie Menschen vor Ort der allgegenwärtigen Präsenz von Kohle in ihrem Leben einen Sinn gaben. Dabei umfasst diese „Kohlelandschaft“ verschiedene, miteinander verbundene Formen der Interaktion: Erstens, körperliche Interaktionen der Menschen mit den toxischen Substanzen, die bei der Verbrennung und Zirkulation von Kohle entstehen. Zweitens, finanzielle und vertragliche Formen von Illegalität, die mit dem Bau und Betrieb der Kraftwerke einhergehen. Drittens, die Mobilisierungen und Proteste, die von den Bewohnern von Ennore, Gewerkschaften und Gesundheitsaktivisten als Reaktion auf die Präsenz von Kohle initiiert wurden.
Bei der Erforschung dieser „Kohlelandschaft" vertritt Raghavans Projekt drei miteinander verbundene Argumente: Erstens untersucht er anhand der Arbeit der Fischer, die in der Nähe der Kraftwerke von Ennore leben, wie die giftige Kohle und ihre Nebenprodukte in Körper und die Umwelt einsickern. Mit einem analytischen Fokus auf „Toxizität" argumentiert er, dass die Forschung über Kohle und Infrastrukturen ihren Fokus erweitern muss, um die vielfältigen Beziehungen, die Kohle produziert, berücksichtigen zu können. Etwa die Beziehung zwischen Hautkrankheiten und dem schwindenden Wohlfahrtsstaat, zwischen vergifteten Flüssen und sich verändernden Arbeitsmärkten, oder zwischen körperlichen Fähigkeiten und informeller Arbeit.
Zweitens konzentriert sich seine Ethnografie auf die Gewerkschaften und darauf, wie sich die anhaltende Präsenz der Kohle auf lokale Arbeitsbeziehungen auswirkt. Indem er einen Gewerkschaftsführer bei Treffen mit verschiedenen Interessengruppen rund um die Kraftwerke begleitet, zeichnet Raghavan nach, wie die Zirkulation von Kohle verschiedene Formen von Illegalität begünstigt hat. Dadurch werden ungleiche Machtstrukturen aufrechterhalten, die Lebensgrundlagen vieler Menschen zunehmend unsicherer und vertragliche Zusicherungen bezüglich der Entlohnung und die Arbeitersicherung untergraben.
Zudem hebt er die „Politik der Wahrnehmbarkeit" hervor, die von den Bewohnern, Gewerkschaften und Aktivisten in Ennore betrieben werde, wenn sie versuchten die Aufmerksamkeit der verschiedenen Öffentlichkeiten auf diese Kohlelandschaft zu lenken. Seine Forschung zeigt, wie diese Gruppen zwischen der vehementen Aufdeckung der illegalen Praktiken der Regierung und der diskreten Teilhabe an anderen verdeckten Illegalitäten rund um die Kraftwerke schwankten.
Raghavans Forschungsprojekt, dass sich mit einem breiten Korpus ethnologischer Literatur über Umweltpolitik und Toxizität sowie Arbeitsmärkten und demokratischer Praxis in Südasien befasst, leistet einen signifikanten Beitrag zu einem erstarkenden Forschungsfeld welches die Politik der Toxizität sowie den menschlichen und nicht-menschlichen Umgang mit der chemisch veränderten Umgebungen untersucht. Derzeit arbeitet er am Max-Planck-Institut für Ethnologie an einer Reihe von akademischen, nicht-akademischen und multimedialen Publikationen. Außerdem überarbeitet er seine Dissertation zu einem frühen Entwurf eines Buchmanuskripts.