Max-Planck-Forschungsgruppe - Wie ‚Terroristen‘ Lernen
Forschungszeitraum: 2015–2023
Terrorgruppen werden oft wie eine „Black Box“ behandelt, sichtbar nur durch die Zerstörungen, die sie verursachen; währenddessen bleiben die Strategien, Entscheidungsfindungen und organisatorischen Prozesse, welche ihren Aktivitäten zu Grunde liegen, meist im Verborgenen und damit scheinbar unbegreiflich. In dieser Forschungsgruppe haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, das Lernen von Terrorgruppen auf kognitiver sowie auf Verhaltensebene zu analysieren und zu kontextualisieren. Wir untersuchen, welche Einflüsse und Motivationen zu Veränderungen führen, und gewinnen damit gleichzeitig generelle Einblicke in die Dynamiken von Gewalt und die Muster des Terrors.
Beim Aufbrechen der Black Box zeigt sich, dass sogenannte „terroristische“ Gruppen mannigfaltige Transformationsprozesse durchlaufen: von der Entscheidung, sich für die Verfolgung eines politischen Ziels zu organisieren, über das Erlernen spezifischer operativer Maßnahmen und Taktiken, bis hin zur Entwicklung oder Abkehr von bestimmten gewalttätigen Strategien. Hinzu kommt, dass Terrorgruppen in einem dynamischen und komplexen Umfeld agieren. Im Kampf gegen den Staat müssen sie sich ständig anpassen, um zu überleben. Dabei lernen sie aus ihren eigenen Fehlern und Erfolgen gleichermaßen wie von anderen Gruppen. Um das Überleben und ihre Relevanz zu sichern, sind manche Gruppen sogar in der Lage, ihre Ziele und Herangehensweisen grundsätzlich zu hinterfragen.
In der bisherigen Forschung wurden vorwiegend die Faktoren beleuchtet, welche Einfluss darauf nehmen, ob terroristische Organisationen in der Lage sind zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Dieser Ansatz hat allerdings von der unserer Meinung nach relevanteren Frage abgelenkt, nämlich wie sie lernen. Lernen findet nicht in einem Vakuum statt. Um verschiedene Aspekte des Lernens terroristischer Gruppen systematisch zu untersuchen, verwendet das Projekt daher ein Modell, dessen Struktur drei miteinander verbundenen Dimensionen folgt, welche die Kontexte (von wem wird gelernt?), Mechanismen (wie wird gelernt?) und Ergebnisse (was wird gelernt?) des Lernprozesses abdecken. Die Frage, von wem oder was gelernt wird, beleuchten wir entlang drei verschiedener Ebenen von der Mikro-, über die Meso-, bis zur Makroebene. Wie Terrorgruppen lernen, also der eigentliche Lernprozess, kann durch die Mechanismen Nachahmung und Wettbewerb dargestellt werden. Das Erlernte äußert sich schließlich in Transformationen auf taktischer Ebene, in der Änderung operativer Vorgehensweisen und Organisationsstrukturen sowie in der Entwicklung und Anpassung von Strategien.
Die einzelnen Projekte der Forschungsgruppe betrachteten verschiedene Terrorgruppen und deren Transformationsprozesse. Die zugehörige Feldforschung führte Gruppenmitglieder nach Niger, Palästina, Türkei, Kirgisistan, Ägypten, das Baskenland, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Nordirland. In Ergänzung zur dort betriebenen qualitativen Forschung wurden quantitative Datensätze und Primärdokumente analysiert. Alle, individuelle wie gemeinschaftliche, Projekte untersuchten auf verschiedene Weise die Ebenen des Lernkontexts.
Projekte der Forschungsgruppen
Interne und externe Mobilisierung in der Opposition und im Amt: Strategien der Hamas in Gaza und der tunesischen Ennahda-Bewegung im Vergleich
Imad Alsoos
Das Forschungsprojekt von Imad Alsoos konzentrierte sich auf Mobilisierungsstrategien der palästinensischen Hamas und der Ennahda-Partei in Tunesien. Zentrale Fragen waren, wie die beiden muslimischen Bruderschaftsbewegungen ihre eigenen Aktivisten mobilisieren, ausbilden und trainieren, wie diese Aktivisten dann ihre internen Organisationsstrukturen bilden und wie sie die Öffentlichkeit innerhalb ihrer eigenen lokalen Gemeinschaften mobilisieren.
Die Boko Haram-Krise und sozialpolitische Dynamiken im östlichen Niger
Florian Köhler
Dieses Projekt von Florian Köhler untersuchte den weiteren Kontext des nigerianischen Boko Haram-Aufstands aus dem Blickwinkel des östlichen Nigers, einer Region, die stark von Spillover-Effekten betroffen ist. Seit ihrer Entstehung in den frühen 2000er Jahren hat sich Boko Haram als neuer Akteur in der regionalen sozialen Landschaft integriert. Dabei ist Integration nicht im Sinne von kultureller Anpassung zu verstehen, sondern als Interaktion im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Systems, welches auch von konflikthaften Verhältnissen gekennzeichnet ist. Florian Köhler gewann den 2020 Amaury Talbot Prize für Afrikanische Anthropologie mit seinem Buch Space, Place and Identity: Woɗaaɓe of Niger in the 21st Century (New York: Berghahn 2020).
Communities of hateful practice: Rechtsterrorismus und kollektives Lernen
Michael Fürstenberg
Thema des Projekts von Michael Fürstenberg waren die Merkmale des kollektiven Lernens von Rechtsterroristen. Die Reihe von Anschlägen und Aufdeckungen rechtsextremer Strukturen in den letzten Jahren, vom Einzeltäter-Terrorismus in Oslo, Christchurch oder Halle bis hin zu den Netzwerken der „Atomwaffen-Division“, „The Base“ oder der „Gruppe S“ in Deutschland wies zunehmend darauf hin, dass sich einige langjährige Annahmen über rechtsextreme Gewalt verändern und wir es mit einer neuen globalen Welle des Rechtsterrorismus zu tun haben könnten.
Mechanismen des Lernens und Verlernens von Terrorgruppen verstehen und beeinflussen
Carolin Görzig
Das Projekt von Carolin Görzig befasste sich mit dem Verständnis und der Beeinflussung von Mechanismen des Lernens und Verlernens von Terrorgruppen. Eine im Umgang mit Terrorismus verbreitete Methode zur Beeinflussung von Lernmechanismen besteht in der Ausübung von Druck auf Terrorgruppen, beispielsweise durch gewaltsame Anti-Terror-Maßnahmen. Dabei stellt sich jedoch die Frage: Ist es möglich unter Druck zu lernen? Anhand von empirischer Forschung zur IRA in Nordirland und der ägyptischen Gamaa Islamiyya wurden hier Möglichkeiten der Transformation durch Verhandlungen und Dialog untersucht.
Die Entstehung von 'Foreign Fighters'
Almakan Orozobekova
Ausländische Kämpfer" sind für das Überleben und die Entwicklung gewalttätiger islamistischer Gruppen/Organisationen in dem derzeitigen dynamischen Umfeld von entscheidender Bedeutung. Dies zeigt der exponentielle Anstieg der Zahl ausländischer Personen, die sich seit 2013 verschiedenen militanten islamistischen Gruppen in Syrien und Irak angeschlossen haben. Dieses Forschungsprojekt von Almakan Orozobekova konzentrierte sich auf die Frage, was Personen dazu bringt, sich gewalttätigen islamistischen Gruppen anzuschließen (Motivationsfaktoren) und wie sie in diese Gruppen aufgenommen werden (Vermittlungs- oder Rekrutierungsmethoden).
Lost in Fighting? Die Dynamik der Interaktion zwischen bewaffneten Oppositionsgruppen in Syrien
Regine Schwab
In ihrer Dissertation hat sich Regine Schwab mit dem komplexen Machtgefüge und den unterschiedlichen Interessen der zahlreichen Oppositionsgruppen im syrischen Bürgerkrieg beschäftigt. Sie zeigte, wie es trotz großer Unterschiede in der ideologischen Ausrichtung, der militärischen Stärke oder den strategischen Zielen immer wieder zu unterschiedlichen Formen von Kooperation kam, die letztendlich bewirkten, dass die militärische Opposition trotz der Überlegenheit des Assad-Regimes und seiner Verbündeten nicht vollständig besiegt werden konnte. Regine Schwab erhielt für ihre Dissertation den Christiane-Rajewsky-Preis 2022.Die Jury hebte in der Laudatio hervor, dass es Regine Schwab mit ihrer Arbeit gelungen ist, zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses bewaffneter Gruppen untereinander beizutragen. Damit habe sie einen wichtigen Beitrag für die internationalen Friedensbemühungen geleistet.
Bericht 2020 - 2022
Abschließender Sammelband der Forschungsgruppe