"Paralleljustiz" und rechtsstaatliche Ordnung in Deutschland
Paralleljustiz fordert den Rechtsstaat heraus, so lautet eine verbreitete Ansicht. Aber gibt es überhaupt ein völlig entkoppeltes, verborgenes Rechtssystem innerhalb Deutschlands? Das ist eine der Fragen, die auf der Konferenz „Konfliktregulierung in Deutschlands pluraler Gesellschaft: ‚Paralleljustiz‘?“ am 1.12.2023 im Harnack-Haus in Berlin behandelt werden. Wissenschaftler des MPI für ethnologische Forschung stellen dabei die Ergebnisse ihrer Forschung in migrantischen Milieus und staatlichen Einrichtungen vor und diskutieren mit Vertretern von Justizministerien der Länder Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen. Die Ergebnisse der Konferenz werden in der ersten Jahreshälfte 2024 publiziert.
Paralleljustiz – ein Phänomen ohne fundierte Belege
Der Begriff „Paralleljustiz“ benennt ein Phänomen, das „ganz allgemeinen als ein Angriff auf die staatliche Justiz wahrgenommen“ wird, schreibt Prof. Dr. Marie-Claire Foblets, Direktorin der Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, in der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (Heft 7, S. 277). Die weite Verbreitung des Begriffs deutet darauf hin, dass neben dem staatlichen Justizsystem ein weiteres Rechtssystem existiert, das keinerlei Berührungspunkte mit der rechtsstaatlichen Ordnung hat. „Für diese Annahme gibt es bislang allerdings kaum wissenschaftlich fundierte Belege. Die Forschung bewegt sich bisher allenfalls im empirischen Halbschatten“, sagt Dr. Hatem Elliesie, der gemeinsam mit Foblets die Forschungsgruppe „Konfliktregulierung in Deutschlands pluraler Gesellschaft“ am MPI leitet. In dem Working Paper „Konfliktregulierung in Deutschlands pluraler Gesellschaft: „Paralleljustiz?“ (https://www.eth.mpg.de/cms/de/publications/working_papers/wp0199) haben sie gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts erste Befunde ihrer Forschung zusammengefasst.
Erforschung der Rechtspraxis von Einwanderungsgemeinschaften
Demnach ist viel eher davon auszugehen, dass Angehörige von Einwanderungsgemeinschaften je nach Interessenlage sowohl bei staatlichen Gerichten als auch bei außergerichtlichen Verfahren Schutz und Beistand suchen. Es sei allerdings wenig darüber bekannt, so die Forscher, welche Rechtspraxis sich tatsächlich in der Lebenswirklichkeit einzelner Gruppen herausgebildet habe. „Ausgangspunkt unserer Forschungen war die Beobachtung, dass sich Mitglieder migrantischer Gemeinschaften dem deutschen Rechtssystem eher zögerlich anvertrauen. Sie wissen häufig einfach nicht, was sie von einem deutschen Richter zu erwarten haben“, sagt Marie-Claire Foblets. Ziel des als Grundlagenforschung angelegten Projekts war es deshalb, zum einen die Formen der Konfliktregulierung bei tschetschenischen, afghanischen, syrischen, jesidischen, kurdischen und türkisch-libanesischen Gemeinschaften erstmals empirisch zu untersuchen und zum anderen zu erforschen, wie staatliche Institutionen damit umgehen.
Vielheit des Rechts in modernen Gesellschaften
Die Tatsache, dass es neben der staatlichen Rechtsordnung noch andere Formen der Konfliktregulierung gibt, die ein gewisses Eigenleben führen, ist an sich nichts Beunruhigendes. Die katholische Kirche hat ihre eigene Rechtsprechung und die Sportgerichtsbarkeit gilt ebenfalls nicht als Angriff auf die Autorität des Staates. Und in den Sozial- und Rechtswissenschaften gilt es als gut erforschte Tatsache, dass die zunehmende Pluralität und Diversität moderner Gesellschaften auch zu einer Vielheit des Rechts führen. Dies geht auch aus dem Working Paper der Forschungsgruppe hervor, wonach „ein Land wie Deutschland […] aus vielen verschiedenen sozialen Feldern [besteht], die jeweils selbständig eigene Regeln, Normen und Symbole produzieren. Das ist weder bedrohlich noch ungewöhnlich.“
„Paralleljustiz“ – ein Begriff ohne wissenschaftliche Präzision
Für die Forscherinnen und Forscher am MPI ist allerdings die weit verbreitete Verwendung des Begriffs „Paralleljustiz“ unzutreffend und problematisch. „Mit dem Begriff „Paralleljustiz“ wird in den Medien und auch in der populärwissenschaftlichen Literatur eine nicht näher bestimmte und bestimmbare Bandbreite von Verfahren und Praktiken assoziiert, die sich unter Ausschluss staatlicher Kontrolle und unter Nichtbeachtung staatlicher Gesetze etabliert haben“, schrieb Elliesie in der Deutschen Richterzeitung (Ausgabe 3/2020, S. 100). Aus Sicht der MPI-Forscher ist dieser unscharfe, stark wertende Begriff zur Beschreibung der gesellschaftlichen Realität höchst ungeeignet. In ihrem Projekt versuchen sie deshalb das Phänomen pluraler Rechtsvorstellungen mit dem wertneutralen Begriff „Konfliktregulierung“ analytisch präziser zu fassen.
Kostenlose Anmeldung zur Konferenz:
Sekretariat der Abteilung ‚Recht und Ethnologie‘ des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung, Mariko Steudtner, Tel. +49 345 29 27 303, steudtner@eth.mpg.de
Ort der Konferenz:
Harnack-Haus – Tagungsstätte der Max-Planck-Gesellschaft
Ihnestr. 16–20
14195 Berlin
https://www.harnackhaus-berlin.mpg.de/kontakt/anfahrt
Programm der Konferenz als PDF
Kontakt für diese Pressemitteilung
Prof. Dr. Marie-Claire Foblets
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Abteilung ‘Recht & Ethnologie’
Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
Tel.: 0345 2927-300
Mail: foblets@eth.mpg.de
Dr. Hatem Elliesie
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Abteilung ‘Recht & Ethnologie’
Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
Tel.: 0345 2927-316
elliesie@eth.mpg.de
Kontakt für die Presse
Stefan Schwendtner
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
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