Anderen Formen von „normal“ auf der Spur

Interview mit Forschungsgruppenleiterin Mareike Schmidt

8. April 2024

Peking, Basel, Hamburg, Berlin – Mareike Schmidt ist viel herumgekommen in der Welt. Seit Anfang dieses Jahres ist sie Forschungsgruppenleiterin am MPI für ethnologische Forschung. Sie beschäftigt sich unter anderem damit, wie das Rechtssystem auf den raschen Wandel von Gesellschaft und Umwelt reagiert. Ihre Forschungsgruppe trägt den Namen „Transformations in Private Law: Culture, Climate, and Technology.“ Wir haben mir ihr gesprochen und wollten wissen, warum sie sich in Halle wohlfühlt und ob es dem Recht gelingt, mit dem Wandel Schritt zu halten.

Mareike, seit wann bist Du am MPI und was machst Du hier?
Ich bin seit dem 1. Januar Forschungsgruppenleiterin in der Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘. Mein zentrales Forschungsprojekt hat den Titel ‘Cultural Embeddedness of Contract Law’. Dabei geht es um die vielfältigen kulturellen Einflüsse auf das Privatrecht im Allgemeinen und auf das Vertragsrecht im Besonderen.

Was hast Du vorher gemacht?
Ich bin Juristin und habe in Würzburg und Berlin studiert. Nach dem Ersten Staatsexamen bin ich für ein Jahr nach Peking gegangen und habe dort einen LL.M. in chinesischem Recht erworben. Nach der Promotion in Basel, einer Postdoc-Stelle und dem Zweiten Staatsexamen hatte ich zuletzt eine Juniorprofessur an der Universität Hamburg.

Was reizt Dich an der Arbeit am MPI, warum hast Du Dich hier beworben?
In meiner Forschung und in meinem Habilitationsprojekt beschäftige ich mich damit, wie das Rechtssystem mit wachsender kultureller Diversität und Differenz umgeht. Diese Thematik findet in der klassischen Rechtswissenschaft mit Blick auf die Kerngebiete des Privatrechts bisher kaum Beachtung. Aber hier am MPI und insbesondere in der Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘ habe ich viele Gesprächspartnerinnen und -partner, die zu ähnlichen Themen arbeiten. Auf den wissenschaftlichen Austausch mit ihnen freue ich mich deshalb schon sehr.

Wie gehst Du bei Deiner Forschung praktisch vor?
Ich habe etwa 500 Urteile recherchiert, in denen sich die Gerichte mit kultureller Differenz auseinandersetzen und Sachverhalte klären mussten, die von der als normal und üblich geltenden deutschen Lebenswelt abweichen.

Was heißt das genau? Kannst Du ein Beispiel nennen?
Ich habe einen Fall untersucht, bei dem das Gericht die Gültigkeit eines Vertrags über ein schamanisches Heilritual zu prüfen hatte. Die im Vertrag festgelegte Summe für die zu erbringende Leistung war einerseits sehr hoch und auf der anderen Seite bestanden erhebliche Zweifel daran, ob die versprochene Leistung überhaupt erbracht und wie das Ergebnis überprüft werden kann. Die Klägerin war deshalb der Ansicht, dass der Vertrag ungültig sei und wollte ihre Anzahlung zurück. Hier stellt sich die Frage, wie das bestehende Rechtssystem mit solchen Sachverhalten umgeht und auf welcher Basis Gerichte ihre Urteile begründen. Denn die Gerichte werden mit Sicherheit in Zukunft immer häufiger mit Einstellungen und Praktiken konfrontiert, die davon abweichen, was dem sogenannten „Normalen“, dem Üblichen oder der gängigen Praxis entspricht.

Und was ist bei dem Fall herausgekommen. Wie hat das Gericht geurteilt?
In der ersten Instanz hat das Gericht entschieden, dass der Vertrag gültig ist. Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt. In der zweiten Instanz kam dann ein Vergleich zustande. Die Klägerin hat einen Teil ihrer Anzahlung zurückbekommen.

Deine Forschung ist ja selbst divers und weicht ab von dem, was in den Rechtswissenschaften als normal und üblich betrachtet wird. Wie wird Deine Forschung bei den Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen?
Ich sehe in letzter Zeit zunehmendes Interesse an meinem Forschungsgebiet, denn es wird durch die wachsende Vielfalt in der Gesellschaft deutlich, dass man mit der traditionellen Rechtsdogmatik und der üblichen Gesetzesauslegung an Grenzen stößt. Ich denke, dass wir mit unserem Forschungsansatz Wege aufzeigen können, wie man diese Grenzen überwinden kann.

Welche Grenzen sind das?
Es besteht die Gefahr, dass wir Normen und Werte, die von den uns vertrauten abweichen und die darauf beruhende Lebenspraxis nicht angemessen beurteilen. Dann wird es auch schwierig, den Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde liegt, zu klären. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Gerichte mit Verhaltensweisen und Praktiken auseinandersetzen, die als unüblich gelten. Anhand meiner empirischen Forschung versuche ich zu zeigen, ob das Rechtssystem von der Einbeziehung interkultureller Gesichtspunkte profitieren kann.

Woran arbeitest Du im Augenblick?
Ich habe ein von der Volkswagenstiftung finanziertes Drittmittelprojekt mitgebracht, in dem ich untersuche, wie das Rechtssystem auf Veränderungen der Gesellschaft und der Umwelt reagiert. Ich beschäftige mich einerseits damit, welchen Einfluss die digitale Transformation und der Klimawandel auf das Recht haben und andererseits damit, wie das Recht diese Transformationsprozesse beeinflusst.

Du bist gerade auch dabei, eine Forschungsgruppe aufzubauen. Welche Themen werdet ihr dort bearbeiten?
In der Forschungsgruppe wird es in erster Linie um die Anwendung des Vertragsrechts in kulturell vielfältigen Gesellschaften gehen. Im empirischen Teil des Projekts wollen wir untersuchen, wie Juristinnen und Juristen mit der kulturellen Einbettung des Vertragsrechts in ihrer Berufspraxis umgehen. Dies soll sowohl durch die Analyse von Gerichtsakten als auch durch Interviews mit Richtern und Rechtsanwältinnen geschehen.

Habt ihr mit dem Projekt schon begonnen?
Ich konnte meine beiden Promotionsstellen vor kurzem besetzen. Sobald die beiden Doktorandinnen die Stellen antreten, geht‘s los. Ich hoffe, das wird in den nächsten Wochen der Fall sein.

 

Kontakt
Dr. Mareike Schmidt
Forschungsgruppenleiterin
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
Tel.: 0345 2927-370
Mail: mschmidt@eth.mpg.de
https://www.eth.mpg.de/mschmidt

Kontakt für die Presse
Stefan Schwendtner
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
Tel.: 0345 2927-425
Mail: schwendtner@eth.mpg.de
http://www.eth.mpg.de

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