Evidenz und Experiment – über Trends in der Entwicklungszusammenarbeit

Forschungsbericht (importiert) 2023 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Schmidt, Mario
Abteilungen
Abteilung ‚Anthropologie des wirtschaftlichen Experimentierens‘
Zusammenfassung
In der Entwicklungspolitik hat sich ein neues Paradigma durchgesetzt: Die evidenzbasierte internationale Entwicklungszusammenarbeit versucht, mithilfe von experimentellen Methoden kausale Effekte von Interventionen nachzuweisen und quantitativ zu erfassen. Mein Forschungsprojekt befasst sich mit den Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels auf lokale Gemeinschaften in Westkenia und beantwortet die Frage, wie Akteure diese experimentellen Methoden verstehen.

Einleitung

Die Entwicklungszusammenarbeit steht seit langem im Kreuzfeuer vielfältiger Kritik. Sie sei ineffizient, bürokratisch, zu teuer – letztlich ein postkoloniales Überbleibsel, das Ungerechtigkeiten nicht aufhebt, sondern verfestigt. Innerhalb der Entwicklungsökonomie hat sich eine Bewegung formiert, die diese Kritik ernst nimmt: die evidenzbasierte Entwicklungszusammenarbeit. Die Gewinner des Wirtschaftsnobelpreises 2019, Esther Duflo, Michael Kremer und Abhijit Banerjee, schlagen vor, die Wirksamkeit entwicklungspolitischer Interventionen mit experimentellen Methoden nachzuweisen und quantitativ zu beziffern. Diese Forderung schlägt sich institutionell in der Gründung von Organisationen nieder, die die Infrastruktur zur Durchführung der experimentellen Forschung bereitstellen (zum Beispiel Innovations for Poverty Action). Ideologisch wird die evidenzbasierte Entwicklungszusammenarbeit von der Moralphilosophie des sogenannten effektiven Altruismus flankiert. Vertreter dieser Moralphilosophie halten es für ethisch geboten, mit einer bestimmten Menge an finanziellen Ressourcen das Leben möglichst vieler Menschen möglichst einschneidend zu verbessern. Kausale Evidenz ist für Vertreter des effektiven Altruismus, die oft auch die Gelder für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen, daher von besonderer Bedeutung.

Experimentelle Evidenz erzeugen

Innerhalb der evidenzbasierten Entwicklungsökonomie hat sich vor allem die Methode der randomisierten Kontrollstudie, wie sie auch in der medizinischen Forschung angewendet wird, als Goldstandard etabliert. Hierbei wird eine Bevölkerungsgruppe zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt: eine Kontroll- und eine Behandlungsgruppe. Ein Beispiel: Während Haushalte in der Behandlungsgruppe Moskitonetze bekommen, gehen die Dörfer in der Kontrollgruppe leer aus. Da es ansonsten keine Merkmale gibt, die die beiden Gruppen unterscheiden, geht man davon aus, dass Unterschiede in der Anzahl der an Malaria erkrankten Kinder auf den Einsatz der Moskitonetze zurückzuführen sind. Die oben bereits erwähnten Wirtschaftswissenschaftler und -wissenschafterlinnen, auch als randomistas bekannt, haben diese Methode in der Entwicklungsökonomie in den letzten Jahrzehnten sehr populär gemacht. Besonders im Fokus stehen dabei bedingungslose Geldtransfers (unconditional cash transfers, UCT), mit denen sich mein Forschungsprojekt in Westkenia näher befasst.

Unconditional cash transfers: Ein Beispiel aus Westkenia

Die Nichtregierungsorganisation GiveDirectly hat seit 2009 über 160 Millionen US-Dollar an UCTs an als berechtigt identifizierte Menschen in Kenia, Ruanda, Uganda, Liberia und weiteren Staaten verteilt. Dies geschieht laut Selbstdarstellung in einer unbürokratischen, nicht korrupten und transparenten Weise. Empfänger der UCTs werden mit dem Programm vertraut gemacht, die UCTs werden von Verhaltensforschenden – unter anderem mithilfe von randomisierten Kontrollstudien – evaluiert, und das Geld wird direkt in die Geldbörsen auf den Mobiltelefonen der Empfänger gesendet. Im Rahmen meiner Feldforschung in Westkenia, wo ich seit 2009 ethnografisch arbeite, wurde mir jedoch schnell klar, dass viele der potenziellen Empfänger und Empfängerinnen einen zentralen Pfeiler der evidenzbasierten Entwicklungszusammenarbeit kritisch sehen: die Randomisierung. So traf ich während meiner Interviews mit Teilnehmenden der RCTs immer wieder auf Unverständnis über die Zuteilung zur Kontrollgruppe. Diese wurde häufig entweder als Ergebnis politischer Korruption oder als Konsequenz mangelhafter eigener Leistung verstanden. Personen aus der Kontrollgruppe gingen beispielsweise oft davon aus, dass sie Fragen der vorausgegangenen Surveys „falsch“ beantwortet und sich daher nicht für den UCT qualifiziert hätten.[1][2]

Kontaminierung und Skalierbarkeit

Aus ethnologischer Perspektive haben die experimentellen Methoden den Abstand zwischen entwicklungspolitischen Interventionen und lokalen Lebenswelten also keineswegs verringert. Im Gegenteil lässt sich vermuten, dass Missverständnisse über den Prozess der Randomisierung zu erheblichen Verzerrungseffekten führen. So kann die Vorstellung, man habe während eines Surveys Fragen „falsch“ beantwortet, eigene Effekte produzieren und die säuberliche Trennung zwischen der Kontroll- und der Behandlungsgruppe kontaminieren. Ebenfalls von besonderer politischer Bedeutung ist eine andere Eigenschaft der Debatten über evidenzbasierte Interventionen: ihre intensive Beschäftigung mit Fragen der Skalierbarkeit von lokal beobachteter Kausalität. So sind Organisationen wie GiveDirectly zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, inwieweit ihre Forschungsergebnisse über den Ort ihrer Erhebung hinaus Gültigkeit besitzen. Kann man anders gesagt davon ausgehen, dass westkenianische Forschungsergebnisse auch im Osten des Landes operationalisierbar sind? Gerade die Verbindungen zu, und oft auch die finanzielle Abhängigkeit von, Anhängern des effektiven Altruismus führen also zu einer Fokussierung auf die Frage der Skalierbarkeit lokal beobachteter Kausalität. Diese Frage der Skalierbarkeit kann jedoch nicht allein mit rein quantitativen, sondern nur mithilfe von ethnografischen Methoden und unter Mitarbeit von Ethnologen und Ethnologinnen beantwortet werden, die zu interdisziplinärer und komparativer Forschung bereit sind.

Literaturhinweise

Lassak, M.; Schmidt, M.
Free money’s ideological nature: a comparative analysis of unconditional cash transfers in Eastern Africa
Economic Anthropology (ePub ahead of print)
Schmidt, M.
The gift of free money: on the indeterminacy of unconditional cash transfers in Western Kenya
Journal of the Royal Anthropological Institute 28 (1): 114-29 (2022)
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