Ysyach: zur Organisation und Praxis eines jakutischen Feiertage
Zusammenfassung des Forschungsprojekts
Das geplante Projekt untersucht einen nicht-russischen traditionellen Feiertag, den Ysyach der Sacha (Sacha ist die Eigenbezeichnung der Jakuten). Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, festzustellen, wie Veränderungen in regionalen Kontexten Sibiriens die Funktionsweise von lokalen Institutionen beeinflussen – und wie diese Veränderungen wiederum auf die Gestaltung von wichtigen öffentlichen Veranstaltungen einwirken und sich in populären Identitäten, Erwartungen und Sehnsüchten niederschlagen. Der Ysyach der Sacha ist eines der prominentesten öffentlichen Ereignisse in der Republik Sacha (Jakutien). Die Organisation des jährlichen Ysyach ist ein bedeutendes Element im Arbeitsplan aller regionalen und subregionalen Behörden. Der Ysyach hat in der postsowjetischen kulturellen und religiösen Wiederbelebung der Sacha eine zentrale Rolle gespielt; er dient als Forum für die Darstellung von neuen Identitäten, Sehnsüchten und religiösen Überzeugungen. Das Ziel meiner Untersuchung der Planung, Vorbereitung und Durchführung dieses Ereignisses besteht darin, die Interaktion zwischen Erfahrungen und Darstellungen jakutischer Identität und Kultur einerseits und den politischen, sozialen und physischen Rahmenbedingungen der Republik Sacha andererseits aufzuzeigen. Dieses Projekt bezieht sich auf die gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte des Sibirienzentrums (visuelle Formen der Selbstpräsentation; veränderte Reisegewohnheiten in den Regionen Sibiriens) und legt besonderes Augenmerk auf die technologischen und infrastrukturellen Veränderungen in Relation zu Orientierung, Kommunikation, sozialen Netzwerken und Identifikation.
Gegenstand der Forschung
Der Ysyach ist der wichtigste traditionelle Feiertag der Sacha. Ein verhältnismäßig großer Anteil der Bevölkerung Jakutiens sind ethnische Sacha: die Volkszählung 2002 ergab, dass 45,5% der Einwohner der Republik Sacha sind, 41,2% sind Russen. Die demographische Situation findet auch ihre politische Entsprechung: eine erhebliche Zahl ethnischer Sacha sind in den Verwaltungs- und Unternehmenshierarchien der Republik zu finden. Prominente Politiker und Geschäftsleute haben dazu beigetragen, den Ysyach zu einem der wichtigsten öffentlichen Ereignisse zu machen. Der heutige Ysyach fasst eine Reihe von kulturellen Trends auf, die russlandweit zu finden sind, z.B. ein breites Interesse an Volkskultur, nationaler Identität und religiösen Erweckungsbewegungen. Dieses Interesse tritt in eine Wechselbeziehung mit dem wachsenden Einfluss des postsowjetischen Massenkonsums und mit politisch motivierten Versuchen, welche darauf ausgerichtet sind, Wahrnehmungen von Ethnizität in der Öffentlichkeit zu manipulieren.
Der Ysyach ist einerseits ein Anlass, um die Volkskultur der Sacha zu artikulieren und andererseits der Versuch der Politik, die Zugehörigkeit zu den Sacha zu beaufsichtigen. Allerdings führt die abgelegene Lage der Republik dazu, dass der Ysyach eine hinlänglich eigenständige Angelegenheit ist, die eine detaillierte Untersuchung der einzelnen beteiligten politischen, religiösen und zivilen Akteure ermöglicht − und somit auch Rückschlüsse auf die Verwaltungs- und Geschäftsbetriebe und den sozialen und technologischen Kontext, in dem sie verortet sind, zulässt.
Der Ysyach hat seine Wurzeln im vorsowjetischen Sacha-Schamanismus: sein zentrales Anliegen ist, das Wohlwollen der heimischen Herrengeister sicherzustellen, indem ihnen fermentierte Stutenmilch (kumys) dargebracht wird. Es findet sich die Ansicht, dass es der sowjetischen Regierung nie gelungen ist, den Ysyach vollständig zu unterbinden, indem stattdessen Sportveranstaltungen oder Jahrmärkte organisiert wurden, welche den Ysyach ersetzen sollten. Nichtsdestoweniger hat die sowjetische Politik die schamanische Tradition der Sacha insofern unterbrochen, als dass die heutige Ysyach-Zeremonie aus vorsowjetischen ethnographischen Aufzeichnungen rekonstruiert werden musste und ein Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen bleibt. Das Festival wurde offiziell im Jahre 1990 wiederbelebt und war ein Teil der Bemühungen der nationalistischen Bestrebungen, die Autonomie der Republik Sacha (Jakutien) innerhalb der der Russischen Föderation zu stärken.
Der Einfluss der nationalistisch orientierten Regierung auf die Wiederbelebung des Ysyach hat seine außerordentlich wachsende Beliebtheit nicht verhindert. Der Ysyach liefert einen willkommenen Anlass für viele Sacha, ihrem Interesse an ihrer traditionellen Kultur, an Schamanismus, Alternativmedizin und Spiritualität nachzugehen, während sie sich mit ihren Familien und Bekannten erholen. Große Organisationen, regionale Netzwerke (zemljačestva) und auch in der Diaspora lebende Sacha haben angefangen, ihre eigenen Ysyach-Feiertage zu veranstalten, die parallel zu dem von der Regierung gesponsorten Ysyach in der Hauptstadt und den jeweiligen regionalen Feierlichkeiten stattfinden. Selbst dieAbteilung der föderalen Polizeikräfte in der Republik Sacha (Jakutien) veranstaltet einen Ysyach, obwohl die Abteilung überwiegend aus ethnischen Russen besteht. Die Anziehungskraft des Ysyach hat auch zur Folge, dass ausländische Kulturerzeugnisse und postsowjetisches Konsumverhalten die einheimische Volkskultur der Sacha beeinflussen; bspw. ist der zentrale Festivalplatz mit indianischen Totempfählen dekoriert, deren Vorlagen aus Hollywood-Western stammen.
Der Ysyach ist auch ein Ort für politische Debatten zur ethnischen Identität der Sacha. Die Sorge der Politiker in der Republik um die [popular] Identität der Sacha ist durch den Vorstoß der Regierung Putins, die Machtverhältnisse in der Russischen Föderation zu zentralisieren und dadurch das Potential einer nicht-russischen Identitätspolitik zu vermindern, noch intensiviert worden. Die zentralistischen Bestrebungen stehen in einem Spannungsverhältnis zu den fortlaufenden Bemühungen der verbliebenen Nationalisten, die Identität und Kultur der Sacha zu propagieren.
Die Organisation der verschiedenen Ysyach-Festivals bezieht einen großen Teil der Bevölkerung auf jeder Ebene des öffentlichen und privaten Sektors der Republik mit ein. Sehr viel Zeit, Geld und Energie ist für die Durchführung eines Ysyach und dem damit einhergehenden Sport- und Unterhaltungsprogramm vonnöten. Die Herausforderungen, die ein solches Unterfangen mit sich bringt, haben sich im Laufe der postsowjetischen Periode ebenso gewandelt wie die demographischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Republik. Eine detaillierte Ethnographie der Organisation des Ysyach soll zeigen, wie Verwaltungseinheiten, wissenschaftliche, kulturelle und religiöse Institutionen sowie Unternehmen die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, welche der Ysyach aufwirft, verhandeln und dadurch auch Funktionsweise dieser Institutionen, ihre Hauptanliegen und die Umgebung, in der sie operieren, offenbaren. Der Ysyach, der das Ergebnis dieses Zusammenspiels darstellt, verdeutlicht somit auch die Auswirkungen, die diese Infrastrukturen auf die Artikulierung der Sacha-Kultur und Identität haben. Er wirft gleichsam ein Licht auf die Art und Weise, wie einzelne ethnische Sacha ihr soziales Umfeld und die Möglichkeiten, die es birgt, wahrnehmen.
Mein 2010 abgeschlossenes Dissertationsprojekt bietet ein Beispiel für die Möglichkeit, durch den Ysyach den Charakter und die Auswirkungen von Institutionen in Sacha (Jakutien) herauszuarbeiten. Es zeigte, dass ländliche Sacha-Gemeinschaften als streng vertikale Hierarchien, denen eine regionale Verwaltung vorsteht, existieren. Diese vertikalen Hierarchien werden auch in der eigentlichen Ysyach-Zeremonie reflektiert. So beginnt der Ysyach in dem Moment, in dem der Landrat, in Sacha-Volkstracht gekleidet, die angesehenen Gäste an ihre Plätze führt; die einzelnen Abschnitte der Zeremonie werden durch Reden des Landrats unterbrochen; Landrat und Gäste trinken als erstes den Kumys, nachdem er von dem weißen Schamanen, der den Vorsitz führt, gesegnet worden ist. Die Ysyach-Zeremonie offenbart und festigt den traditionellen Respekt der Sacha für die Macht einzelner Personen und die damit verbundene Akzeptanz von Hierarchien. Die Zeremonie bestärkt ferner die Tendenz der Sacha, den Anspruch der Verbundenheit mit prominenten Sacha als einen integralen Bestandteil der Identifikation wahrzunehmen (und unterstreicht die Erwartung an andere Nationalitäten, das Gleiche zu tun).
Umsetzung
Das soziale Umfeld in Sachas (Jakutiens) Landkreisen (ulusy) unterscheidet sich beträchtlich von den Verhältnissen in der Hauptstadt Jakutsk. Ich werde diese Differenzen dadurch erforschen, indem ich den zentralen Ysyach der Republik in Jakutsk mit einem regionalen Ysyach vergleiche. Dieser Vergleich kann auch die Auswirkungen einer der größten Herausforderungen der Republik – ihre gewaltige Größe – auf die Regierung und die sozialen Netzwerke und, durch den Ysyach an sich, auf die Selbstrepräsentation der Sacha offenlegen. Meine Daten erhebe ich auf der Basis enger, persönlicher Bekanntschaften mit einer ausgewählten Gruppe von Hauptorganisatoren und ihren Kollegen, durch Interviews mit Politikern, religiösen und akademischen Experten sowie Angestellten aus den untergeordneten Ebenen des öffentlichen und privaten Sektors. Ich werde die Aktivitäten meiner Hauptinformanten in den Monaten vor dem Ysyach und während des Feiertages selbst verfolgen. Die Gespräche und Interviews werden auf Russisch und Sacha (Jakutisch) durchgeführt werden.
Ysyach Feierlichkeiten finden überall in Sacha (Jakutien) während der letzten beiden Juniwochen statt. Ich werde den Ysyach 2010 besuchen, um meine Kontakte zu erweitern und ein geeignetes Kreiszentrum als Ort für die eigentliche Feldforschung auszuwählen. Ich werde die Zeit von Oktober 2010 bis Juli 2011 in Jakutsk und dem ausgewählten Landkreis verbringen und Menschen aus Politik, Kultur und Wissenschaft sowie diejenigen, die mit den religiösen Riten vertraut sind, als auch das interessierte Laienpublikum interviewen und an den Ritualen teilnehmen. Ich werde im Juni und Juli 2012 nach Sacha (Jakutien) zurückkehren, um Veränderungen zu verfolgen, die möglicherweise im vorangegangenen Jahr stattgefunden haben.