“Die Zeit der Singenden Pfeile”: Rollenspiel, Tourismus und Selbstrepräsentation in indigenen Kulturcamps für Kinder und Jugendliche, Westsibirien

Der im Westen Sibiriens gelegene Autonome Kreis der Chanten und Mansen (Jugra) schaut auf 20 Jahre Rückbesinnung auf eine traditionelle Lebensweise zurück. Die Bemühungen der indigenen Intelligentsia kommen in der Bildung von Verwaltungskörperschaften und in der Gesetzgebung zur Erhaltung und Entwicklung indigener Traditionen zum Ausdruck. Diese Bemühungen zeigen sich an der Schnittstelle der Interessen von Öl- und Gasindustrie, der staatlichen Ambitionen auf nationaler und regionaler Ebene sowie der heterogenen Stimmen der indigenen Repräsentanten. Das von Alexander Pika geprägt Konzept des „Neotraditionalismus“ wird weiterhin von einigen indigenen Intellektuellen befürwortet, um die weitere Entwicklung indigener Siedlungen auf Grundlage der Förderung jungen Unternehmertums voranzutreiben. Ihrer Meinung nach können indigene Traditionen als ökonomische Ressource im Tourismusgewerbe verwendet werden, um auf diese Weise die ökonomische und kulturelle Selbstbestimmung der jüngeren Generationen auf lokaler Ebene zu stärken. Mit anderen Worten: kulturelles Kapital lässt sich in finanzielles Kapital umwandeln (Bourdieu 1986).

Forschungsfragen

Mein Dissertationsprojekt untersucht die gegenwärtigen Entwicklungen verschiedener Tourismusformen anhand von ethnokulturellen Camps für indigene Kinder und Jugendliche, die in der Nähe der indigenen Ortschaften Kazym und Saranpaul in Westsibirien liegen. In der Region selbst werden die Camps oft als stojbišče bezeichnet. Diese Formen des Tourismus umfassen die Reisen der Campleitung als auch der Jugendlichen. Damit verbindet sich die Entwicklung von kommerziellen und nicht-kommerziellen regionalen, nationalen und internationalen Tourismusaktivitäten (mit ethnographischem oder gesundheitsbedingtem Bezug; als Abenteuer- und Bildungsurlaub; als Jugendaustausch). Meine Hypothese ist, dass die unterschiedlichen Formen des Tourismus eng miteinander verflochten und mit den internen Prozessen in den einzelnen stojbišče verbunden sind.
Worin bestehen die Motivation und die Absichten der stojbišče-Akteure (Erzieher/innen, Kinder), wenn sie in andere Teile Russlands oder ins Ausland reisen? Was motiviert die Touristen auf kommerzieller und nichtkommerzieller Ebene, das stojbišče zu besuchen? Inwiefern hängen diese unterschiedlichen Formen von Tourismus zusammen?
„Soziale Identität wird durch Unterschiede definiert und bestätigt“ (Bourdieu 1979). Welche Rolle spielen die Reisegewohnheiten der stojbišče-Akteure, der Konsum von materiellen Gütern sowie die mit Europa assoziierten Werte, Symbole und Lebensstile; und welche Rolle spielt das Unternehmertum im Tourismusgewerbe bei der Schaffung bzw. der Wahrung ihrer eigenen Identität im regionalen, nationalen und internationalen Kontext (Friedman 2002)?
Wie werden diese Formen des Tourismus medial repräsentiert, bspw. im Internet, in Broschüren, Filmen, Animationen und Computerspielen?
Ethnokulturelle Camps wurden in den 1990er Jahren von der indigenen Intelligentsia im Rahmen des "ethnic revival" eingeführt, um indigenes Wissen an jüngere Generationen weiterzugeben. Ein Hauptanliegen der indigenen Pädagoginnen und Pädgogen im Bezug auf das stoibišče besteht darin, dass der Empfang von Gästen aus anderen Regionen und Ländern oder eigene Auslandsreisen Kinder und Jugendliche dazu befähigen soll, ihre lokalen Traditionen wahrzunehmen und vorzustellen, und das dies weiterhin dazu führt, dass Kinder und Jugendliche sich bei älteren Angehörigen danach erkundigen, was sie über ihre eigene Kultur noch nicht wissen. Die „Ethnizitätsindustrie“ (Comaroff 2009) – im konkreten Falle die Idee, chantische und mansische Ethnizität auf dem weltweiten Markt anzubieten – ist ein neues Phänomen, das erst in den letzten fünf Jahren zu beobachten ist. In dieser Hinsicht kann das stojbišče als eine Art „Grenzgebiet“ ethnischer Interaktionen gesehen werden, ein kreativer Ort für kulturelle Erzeugnisse, die Herstellung von Identität und die Ausdifferenzierung von Lebensstilen mit den dazugehörigen Kämpfen, Einschränkungen und Repräsentationen von Macht (Bruner 1996; Ortner 1999). Das stojbišče entspricht Homi Bhabhas Konzept des „dritten Raumes“, in dem Bedeutungen und Symbole „angeeignet, übersetzt, re-historisiert und neu interpretiert werden können“ (Bhabha 1994). Es erweist sich als ein Raum von Wiedererweckung und (Neu-) Erfindung von lokalen Traditionen, als ein Erholungs- und Bildungsraum für einheimische Kinder und Jugendliche, aber auch als ein Raum, wo die Teilnehmenden ihre Identität herstellen, und wo sie in Rollenspielen üben, Touristenführer zu sein. Weiterhin ist es ein Raum für interkulturelle Begegnungen mit Jugendlichen aus anderen Regionen und Ländern und schließlich ein Ort der Erholung für Touristen im Rahmen von kommerziellen Reiseangeboten.

Einige Beobachtungen zu sich wandelnden Reisegewohnheiten und Formen der Selbstdarstellung

  1. Indigene Aktivistinnen und Aktivisten formen Partnerschaften mit ausländischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, insbesondere mit Organisationen in Deutschland. Seit 2004 haben mehrere junge Chanty, Mansi und Komi an Austauschprogrammen mit einer deutschen NGO teilgenommen: Theaterauftritte, Tanz und gemeinsames Musizieren mit deutschen Jugendlichen wurden durch staatliche Unterstützung ermöglicht. Zwei junge Frauen nehmen am Programm des Europäischen Freiwilligendienstes in Deutschland teil und halten sich dort zwischen sechs Monaten und einem Jahr auf. Ihre Aufgabe besteht darin, ihre Regionen und die lokalen indigenen Kulturen zu präsentieren. Deutsche Organisationen beziehen in ihren Programmen des „Globalen Lernens“ auf diese Weise indigene Freiwillige mit ein, so hält sich beispielsweise eine junge Frau mit Mansi-Hintergrund zu einem Voluntariat im Nationalpark Bayerischer Wald auf. Darüber hinaus gibt es offizielle Besuche, um den Aufbau von Schulpartnerschaften zwischen Kazym, Saranpaul und Schulen in Deutschland zu organisieren.

  2. Aktivistinnen und Aktivisten der stojbišče präsentieren sich bei offiziellen Veranstaltungen wie z.B. auf Tourismusmessen in Leipzig und Hannover, auf Webseiten und mittels Werbematerial, das mit staatlicher finanzieller Unterstützung hergestellt wird. Ihre Internetseiten www.etnic.ru und http://kazym.ethnic-tour.ru/kazym/en/ zeigen einerseits die Bildungsangebote für einheimische Kinder und Jugendliche in den Camps und bewerben andererseits diese Orte als Touristenattraktion. Sie reisen auch nach Moskau und in andere russische Großstädte, um ihre indigenen Kulturen mit einem „mobilen stojbišče“ zu bewerben, indem sie ein traditionelles Zelt (čum) bei Messen und Festivals aufstellen.

  3. Geschäftsreisen und Besuche zur Netzwerkpflege werden von Aktivistinnen und Aktivisten der stojbišče oft mit dem persönlichen Wunsch verbunden, europäische Metropolen wie Paris und Wien zu bereisen.

  4. Die am Camp teilnehmenden Jugendlichen in Kazym und Saranpaul besuchen sich in den Sommerferien gegenseitig. Deutsche Jugendliche reisen alle zwei Jahre im Rahmen eines Jugendaustauschs zu den stojbišče nach Kazym oder Saranpaul.

  5. Pädagog/innen der stojbišče laden Menschen mit Erfahrungen im Organisieren von Jugendcamps aus Moskau, St. Petersburg, anderen Regionen Russlands oder auch aus Deutschland ein. Außerdem werden die Camps gelegentlich von Sponsoren und von Filmteams verschiedener Fernsehsender besucht.

  6. Sowohl Einzelreisende als auch Touristengruppen kommen in die Regionen Kazym und Saranpaul, um indigene Kultur und Natur zu "konsumieren". Die Teilnahme an Ereignissen wie dem "Chantischen Neujahrsfest" oder dem "Bärenfest" werden einzelnen Personen angeboten, die ein besonderes Interesse daran zeigen.

Methoden

Das Forschungsprojekt basiert auf Untersuchungen für meine Magisterarbeit (2006-2008). Die wichtigsten Methoden sind die teilnehmende Beobachtung und narrative Interviews. Der Schwerpunkt liegt auf dem nichtkommerziellen Tourismus im Rahmen von Jugendaustauschprogrammen, da davon auszugehen ist, dass diese Programme eine wichtige Vorreiterrolle für die Etablierung kommerzieller Angebote spielen. Ich plane, die Reaktionen, Interpretationen und Verhaltensweisen sowohl der deutschen als auch der indigenen Gruppe auf dem stojbišče und in Deutschland zu beobachten und zu dokumentieren. Ebenso sollen die Erwartungen und die Motivation der Jugendlichen, an einem solchen Programm teilzunehmen, ergründet werden. Desweiteren möchte ich die Selbstdarstellung der stojbišče-Akteure im Internet, in Werbebroschüren, in amtlichen Tourismusplänen und in selbstproduzierten Bildungsmaterialien untersuchen. Dieses Vorhaben erfordert die Aufteilung der Feldforschung auf mehrere Orte (Marcus 1998):

a) Begleitung der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Reise von Deutschland zum stojbišče nach Saranpaul im August 2010 (etwa 12 Personen) und während des Aufenthaltes dort. Der Schwerpunkt der Jugendbegegnung 2010 ist die Erstellung eines gemeinsamen Films, der von den Jugendlichen gedreht wird und in dem sie selbst die Hauptrollen spielen. Der Film thematisiert die Rekonstruktion einer altertümlichen Festung (gorodišče) und die Inszenierung eines Rollenspiels ("Die Zeit der Singenden Pfeile"). Der Film wird somit zu einem Produkt, welches auf der Idee basiert, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie indigene Erzieher/innen und Teilnehmer/innen mit der (Neu-)Erfindung ihrer Kultur umgehen, wenn diese einerseits im Rollenspiel vorgeführt und medial dargestellt und andererseits zur selben Zeit mit deutschen Jugendlichen verhandelt wird.

b) Begleitung der stojbišče-Teilnehmenden des Austausches 2010 aus dem Autonomen Kreis der Chanten und Mansen nach Deutschland im Juli-August 2011 (etwa 12 Personen). Der 2010 begonnene Film wird fortgesetzt und inhaltlich weiterentwickelt.

c) Interviews mit Pädagog/innen und Teilnehmer/innen in den indigenen Ortschaften Kazym, Saranpaul und der Gebietshauptstadt Chanty-Mansijsk.

d) Beobachtung der Teilnehmenden in Bezug auf kommerzielle Tourismusangebote in den Camps nahe Kazym und Saranpaul, ebenso wie Interviews mit Touristen.

Literaturverweise

Bourdieu, Pierre 1986. “The Forms of Capital”. In: J. G. Richardson (Hrsg.), Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education; pp. 241-258. New York: Greenwood Press.

Friedman, Jonathan 2002. Globalization and Localization. In: J. X. Inda, R. Rodaldo (Hrsg.), The Anthropology of Globalization: a reader; pp. 233-246. Blackwell Publishing.

Ortner, Sherry 1999. The Fate of “Culture”: Geertz and beyond. Berkeley: University of California Press.

Bhabha, Homi 1994. The Location of Culture. New York: Routledge.

Bruner, E. M. 1996. “Tourism in the Balinese Borderzone”. In: S. Lavie and T. Swedenburg (Hrsg.), Displacement, Diaspora, and Geographies of Identity; pp. 157-179. Durham and London: Duke University Press.

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